Thursday, April 26, 2007

Webdossier: LAURA DERN

Wieviel Laura steckt in IE? Geboren wurde sie am 10. Februar 1967 in Los Angeles/USA als zweites Kind der Eltern Bruce Dern (u.a. 'Lautlos im Weltraum', 'Marnie') und Diane Ladd (u.a. 'Alice lebt hier nicht mehr', 'Der Kuß vor dem Tod'). Lauras Schwester verstarb im Mai 1962 im Alter von 18 Monaten nach einem Unfall im Hausteich. Derns Patin ist die zweifache Oskarpreisträgerin und Frauenrechtlerin Shelley Winters ('Das Tagebuch der Anne Frank', 'Lolita'), die bereits Robert der Niro entdeckt und gefördert hatte und dies mit Laura ebenso tat.

Im Alter von 13 Jahren spielte Laura Dern zusammen mit Jodie Foster in 'Jeanies Clique', mit 15 in 'Die Aufsässigen' und mit 17 in 'Die Maske'. Im Alter von 19 Jahren gelang ihr der Durchbruch in David Lynchs 'Blue Velvet', wobei sie für vier Jahre die Freundin von Hauptdarsteller Kyle MacLachlan wurde. Nach 'Blue Velvet' war Dern ein Star, der aber hauptsächlich in intellektuellen Cineastenkreisen geschätzt wurde. Dies galt umso mehr nach Lynchs 'Wild at Heart - Die Geschichte von Sailor und Lula' 1990 und änderte sich erst 1993 mit ihrer weiblichen Hauptrolle in Steven Spielbergs 'Jurassic Park'. Drei Jahre lebte sie mit dem Schauspieler Jeff Goldblum zusammen, von dem sie sich 1997 trennte. Kurz danach verliebte sie sich in ihren Kollegen Billy Bob Thornton, mit dem sie sich 1999 verlobte. Die Beziehung mit Thornten endete für Laura Dern jedoch kurz vor der Hochzeit im Fiasko, als sich Billy Bob von ihr trennte und mit Angelina Jolie verlobte. Erst der Musiker Ben Harper holte sie aus ihrer Lebenskrise. Inzwischen sind beide verheiratet und haben die gemeinsamen Kinder Ellery und Jaya.

Von ihrer Patin inspiriert setzt sich Laura Dern seit Jahren für soziale Gerechtigkeit, für die Belange von Obdachlosen und für die Rechte der Frauen in Afghanistan ein. Sechs Jahre lang war sie überzeugte Vegetarierin, bevor sie an Blutarmut erkrankte und ihre Ernährung auf ärztlichen Rat hin teilweise auf fleischliche Kost umstellte.

Wednesday, April 25, 2007

DER SOUNDTRACK

(bisher unveröffentlicht)

Beck: BLACK TAMBOURINE
Orchester Mantovani: LOVELY WAY TO SPEND AN EVENING
Kroke: THE SECRETS OF THE LIFE TREE
Polnisches Radio Symphonieorchester: FLUORESCENCES FOR ORCHESTRA / Krzysztof Penderecki
Little Eva: THE LOCO-MOTION
Orchester Mantovani: THE COLORS OF MY LIFE
Polnisches Radio Symphonieorchester: DE NATURA SONORIS II
Joseph Altruda: LISA
Polnisches Radio Symphonieorchester: POLYMORPHIA / Krzysztof Penderecki
Polnisches Radio Symphonieorchester: ALS JAKOB ERWACHTE / Krzysztof Penderecki
Polnisches Radio Symphonieorchester: NOVELETTE (Conclusion)
Polnisches Radio Symphonieorchester: DE NATURASONORIS I / Krzysztof Penderecki
Dave Brubeck Quartett: THREE TO GET READY AND FOUR TO GO
Boguslaw Schaeffer: KLAVIER KONZERT
David Lynch & Marek Zebrowski: "POLISH NIGHT MUSIC NO. 1"
David Lynch & Chrysta Bell: POLISH POEM
David Lynch: GHOST OF LOVE (Strange what love does)
Krzysztof Penderecki: ANAKLASIS FÜR STREICHER UND SCHLAGZEUG
Etta James: AT LAST
Nina Simone: SINNER MAN (FelixDaHousecatsHeavenlyHouseMix)
David Lynch: WALKIN' ON THE SKY

Zusätzliche Musik von Angelo Badalamenti.

"Selbsterfahrung mit Doktor Lynch"

[Andreas Borcholte im SPIEGEL über INLAND EMPIRE]


Mit INLAND EMPIRE verabschiedet sich der amerikanische Regisseur David Lynch endgültig von den Zwängen des Kino-Betriebs. Sinnsucher aufgepasst: Dieser Film wird Sie verwirren - und enttäuschen.

Mit Kino im klassischen Sinne hat INLAND EMPIRE nichts zu tun und könnte dabei doch der einzig wirklich künstlerische Film sein, den dieses Kino-Jahr hervorbringen wird. Angesichts der Fülle an Assoziations-Angeboten, Verschachtelungen, angedeuteten Metaphern und Symbolen, Großaufnahmen von Laura Derns bebendem Gesicht, das mal Leid, mal Angst, mal Geilheit auszudrücken scheint; angesichts der schieren Wucht der Eindrücke, die in knapp drei Filmstunden über die Leinwand flackern, bleibt man als Kritiker ratlos zurück. Der Regisseur hat sich konsequent den Deutungsmethoden des Erzählkinos entzogen.

Dieser Regisseur heißt David Lynch, ist 61 Jahre alt und antwortet mit sanfter Stimme, wenn ihn Journalisten mal wieder verzweifelt nach Antworten auf jene Fragen anbetteln, die seine Filme hinterlassen. "Das Kino kann die Zuschauer in eine Welt jenseits des Intellekts entführen, in der sie sich ganz und gar ihren eigenen Intuitionen anvertrauen müssen. Es geht nicht darum, etwas zu verstehen, sondern darum, etwas zu erfahren", erklärte Lynch unlängst im SPIEGEL-Interview. Jenseits des Intellekts, das heißt so viel wie den Kopf ausschalten und den Sinnen freien Lauf lassen.

Man muss dazu wissen, dass Lynch seit den frühen Siebzigern Transzendentale Meditation praktiziert, eine Entspannungsmethode, die zum Ziel hat, eine Art Erleuchtung zu erfahren, indem man meditierend innerhalb des eigenen Geistes zum so genannten "Einheits-Bewusstsein" vorstößt. Wer diese Stufe erreicht, für den existieren die Begriffe Realität und Fiktion nicht mehr. Raum, Zeit, Traum und Wachzustand verschmelzen zu einer alles durchdringenden Erfahrung.

Das Wissen um diese Methode kann helfen, das jüngste Werk Lynchs zu deuten. Auch wenn dies vielleicht nur ein weiteres Greifen nach dem Strohhalm der Deutung ist, ein letztes, ein kümmerliches Aufbäumen des Intellekts. Denn kognitive Erleichterung bietet auch die Flucht in die Inhaltsbeschreibung von INLAND EMPIRE kaum. Es gibt keine zusammenhängende Narration, sondern nur einen Plot in einem Plot in einem Plot. Durch ihn schleppt sich Hauptdarstellerin Laura Dern, als müsse sie Prüfungen absolvieren, um aus einem Alptraum aufzuwachen, die ein verrückter Professor in ihr Unterbewusstsein verpflanzt hat wie in ein Versuchskaninchen.

Zu Beginn des Films, als wolle Lynch uns auf eine falsche Fährte locken, scheint noch alles überschaubar: Die in Vergessenheit geratene Schauspielerin mit dem schaurigen Namen Nikki Grace (Dern) will mit ihrer Rolle in dem Film "In High On Blue Tomorrows" ihr Comeback feiern. Was sie spät, vielleicht zu spät, erfährt, ist, dass der Film, eine üble Schnulze, schon einmal in Polen gedreht, aber nie zu Ende gebracht wurde, weil beide Hauptdarsteller ermordet wurden.

Als sich Nikki in den Kulissen des Filmsets verirrt und sich plötzlich in einer völlig veränderten Realität wieder findet, wähnt man sich noch auf vertrautem Lynch-Terrain, das man sich durch beharrliches Betrachten der verschlüsselten Spätwerke "Lost Highway" und "Mulholland Drive" Stückchen für Stückchen erarbeitet zu haben glaubte. Doch bald darauf wechseln Orte, Zeit- und Handlungsebenen so rasch, erscheinen und verschwinden polnische Mafiosi, Sitcom-Darsteller mit Hasenköpfen und harpyienhafte Huren so scheinbar unzusammenhängend, dass man sich fühlt wie die arme Dorothy im "Zauberer von Oz": Plötzlich sind wir nicht mehr in Kansas - und das Wirbelsturmtief namens Lynch trägt uns davon auf eine andere Bewusstseinsebene.

Nikki Grace muss sowohl die Geschichte des ursprünglichen Darstellerpaares als auch die der Filmfiguren sowie ihre eigene geknickte Karriere durchleben, und am Ende, als sie mit einem Schraubenzieher in den Eingeweiden sterbend zwischen Pennern an einer Häuserwand am Hollywood Boulevard liegt, glaubt man erneut, INLAND EMPIRE verstanden zu haben: als verkünstelte Parabel auf die mörderische Filmindustrie, unter dem das neu entdeckte Wunderkind Lynch in den späten Achtzigern zu leiden hatte. Und als späte, versöhnende Hommage an die Frauen, die in seinen früheren Filmen oft unter seinem Sadismus leiden mussten.

Dass gerade Laura Dern diese Figur verkörpert, ist nur sinnvoll: Wie keine andere von Lynchs Darstellerinnen musste sie in "Blue Velvet" und "Wild at Heart" als Projektionsfläche für männliche Phantasien herhalten. Jetzt gibt ihr Lynch eine mehrfach eingestreute, sehr kafkaeske Sequenz, in der sie einem desinteressierten Anwalt oder Detektiv in einer engen Dachkammer ihre Leidensgeschichte erzählt. Je lethargischer der Kerl, desto wütender wird die verlebte Frau, die vor ihm sitzt.

Laura Dern, dieser Blondine, deren Schönheit sich aus einem kantigen Gesicht und einem verrucht verrutschten Mund zusammensetzt, verdankt INLAND EMPIRE viel von seiner Faszination. Fast scheint es, als biete ihr Lynch einfach nur eine Leinwand, auf der sie sich rückhaltlos austoben kann. Es ist schade, dass sie für diese extreme Schauspiel-Leistung, die mit Selbsterfahrung ähnlich viel zu tun hat wie mit experimentellem Theater, keine Anerkennung der Filmindustrie bekommen hat. Aber "dort, wo David Lynch und Laura Dern in 'Inland Empire"' hingelangt sind, gibt es keine Oscars mehr", schrieb der Kritiker Georg Seeßlen unlängst in einem Aufsatz über den Film.

Tatsächlich bleibt kein Verständnis, sondern lediglich eine ambivalente Erfahrung übrig: Der Filmemacher hat sich durch seine Abkehr vom konventionellen Filmbetrieb unabhängig von fast allen Regeln der Darstellung gemacht, eine Freiheit, die unter anderem auch die höchst strapaziöse Länge des Films zur Folge hat. Gedreht wurde nicht auf Zelluloid, sondern mit einer digitalen Videokamera. Vertrieb und Produktion lagen erstmals allein in seiner Hand, geholfen hat seine Frau Mary Sweeney. Vieles, was später im Film landete, lagerte schon Monate in digitalen Speichern oder lief als Mini-Serie auf Lynchs hyperaktiver Website. Die Zukunft sieht dieser wahrlich Unabhängige unter den Independents in den sich überlappenden Medienströmen des Netzes, das "Künstler mit völlig neuen Ausdrucksformen" hervorbringen wird.

Und so muss man INLAND EMPIRE nicht nur als Film, sondern als nach allen Seiten offene Kunst-Installation begreifen. Als Experiment, das die Leinwand nur als Sprungbrett nutzt, um in den Köpfen der Zuschauer ein individuelles Eigenleben zu entwickeln. Viel Spaß bei der Selbsterfahrung.


Andreas Borcholte © 2007 DER SPIEGEL. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die im SPIEGEL wiedergegebene Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.

"Von der Kunst zum Kino und zurück" - Teil 2: INLAND EMPIRE - der Film

[Georg Seeßlen in der EDP Film 4/2007 über David Lynch und INLAND EMPIRE]
(... Fortsetzung ...)


INLAND EMPIRE ist David Lynchs erster Film, der auf Digital-Video-Material gedreht wurde, und darin überträgt sich eine Direktheit, eine bizarre Aktualität, so als wäre der Traum nicht mehr auf Zelluloid aufgehoben, sondern wäre gegenwärtig und vorläufig. Das Kunstwerk, das seine technische Reproduktion bedenkt. Die schnellere und billigere Arbeitsweise nun verleitet möglicherweise auch dazu, Quantitäten zu erzeugen, die den routinierten Kinozuschauer an den Rand seiner Aufmerksamkeitsspanne bringen. Drei Stunden dauert Inland Empire, auch wahrnehmungspsychologisch eine reine 'Unzeit'. Dabei entstand vielleicht so etwas wie eine Digest-Zusammenfassung des Lynchismus, womöglich auch der erste „Lynch-Film“ des David Lynch. Wie so oft bei diesem Autor mag man den Eindruck haben, es handele sich zugleich um einen Abschluss und einen Neuanfang.

Lynch hat das Drehen auf Digital Video für Beiträge zu seiner Webseite erprobt und sich in das Material, wie er selber sagt, „verliebt“. Er preist die „neue Freiheit“, die man beim Drehen und bei der Postproduction damit gewinnt. „Für mich gibt es keinen Weg zurück zum Film“, sagt der Autor, was ästhetische Entscheidung und ökonomischen Zwang miteinander verbinden mag. DV wird zum Experimentiermaterial für den audiovisuellen Künstler, der gleichsam aus dem Kopf arbeitet und keine Zugeständnisse mehr machen und keine zermürbenden Verhandlungen mit der Produktionsseite mehr führen will. Was nun entsteht, ist so reiner Lynch wie bei einem Maler, den man mit seinen Farben und seiner Leinwand arbeiten lässt, ohne ihm dreinzureden.

Während in den früheren Lynch-Filmen ein offenes System aus seltsam geschlossenen Bildern entstand (jede Einstellung war gleichsam auch ein Gemälde), entsteht es nun zu einem Teil aus offenen, in gewisser Weise unfertigen Bildern. Tatsächlich spielten diesmal auch Vor-Arbeiten, einzelne Installationen, Fotoprojekte (einige davon in der Retrospektive der Fondation Cartier in Paris ausgestellt) sowie autonome Filme (Darkened Room, Rabbits) eine wichtigere Rolle für einen Prozess, der nicht zuletzt auch Collage ist und schon damit auch Sammlung und Rückschau. Die 'Dialoge' von Rabbits etwa, die im ursprünglichen Film nichts als konkrete Poesie waren, wundersame Leere, bekommen in Inland Empire nun eine neue Funktion: Sie 'bedeuten', sie liefern Muster der Komposition und, einmal mehr, des Dechiffrierungsspiels. Auch das Internet spielt in der Kunstkonzeption des David Lynch eine andere Rolle als bei den Medienmultiplikationen des traditionellen Verwertungsprozesses audiovisueller Produkte. Hier sind es Arbeitsskizzen, Entwürfe, Teillieferungen, die die Lynch-Gemeinde abrufen und in die sie hineinwirken kann. Die Anfänge von Inland Empire bestehen aus Kurzfilmen, die Lynch für das Netz oder in ihm realisiert hat. Der Film Inland Empire ist das Zentrum eines größer angelegten Kunstprojektes, das wiederum eine Zusammenfassung des großen Kunstprojektes David Lynch ist.

Damit verliert Lynch freilich ein wenig von dem, was ihn in seiner Karriere bis dahin so einzigartig machte, nämlich die Fähigkeit, die Freiheit seiner Kunst in die Traumfabrik selber zu tragen und mit 'Twin Peaks' sogar in die Fernsehgemeinde der Primetime. Nun, längst im Rang eines Klassikers, kann er abseits der industriellen Bahnen arbeiten, sehr frei, aber auch ein wenig isoliert. Seine neue Arbeitsweise ist ein Medium der „huge exploration“ (Zitat Lynch), und nicht zuletzt erlaubt DV ein anderes Arbeiten mit den Schauspielern. Sie spielen gewissermaßen nicht mehr zum Cut oder zum Ende des Filmmaterials, sondern bis zur eigenen Erschöpfung. Eine Art Anti-Image-Arbeit ist da zu beobachten. Die Performance ist zweifellos flüssiger, insbesondere Laura Dern scheint sich in die Situation zu steigern „bis zum Exzess“, wie man so sagt. Dern 'stellt' nicht 'dar', sie exploriert. Man kann sich vorstellen, wie groß Respekt und Vertrauen zwischen Regie und Darstellung sein müssen, und man kann sich vorstellen, welche Rolle das leichte und bewegliche Material dabei spielt.

INLAND EMPIRE beschreibt einen Zustand gewiss; zugleich aber ist es auch ein ganz konkreter Ort, eine düstere Gegend an der Grenze zur Wüste in der östlichen Nähe von Los Angeles. Die glanzvolle Seite der Stadt, die in 'Mulholland Drive' noch eine so bedeutende Rolle spielte, kommt hier nicht vor. Wieder geht es um zwei Frauen, deren Wege und Erscheinungen ineinander verwoben sind, und wieder ist eine von ihnen ein blonder Filmstar. Allerdings diesmal nicht am Anfang, sondern wohl auf einer Linie zwischen Höhepunkt und Ende der Karriere. Eine Art Prolog beschreibt einen Akt des Tausches von Liebe und Geld, Mann und Frau in einem Hotel ohne Identität; die Gesichter gleichsam digital ausradiert. Dann erst bekommt, nachdem der Mann sie verlassen hat, die Frau ein Gesicht: eine dunkelhaarige junge Frau in einem einsamen, alten Hotelzimmer. Sie weint, während im Fernsehen eine typische Comedy-Show läuft, das Bildschirmlicht spiegelt sich in ihren Augen. Eine Couch (wiederum dem 'imaginären' Fernsehen zugewandt, wie man sie von Al Bundy und den Seinen kennt) im Wohnzimmer, dahinter die Küche und das Bügelbrett. Sätze ohne Bedeutung, Tür auf und zu, dazu Gelächter vom Band. Alles wie gewohnt. Nur dass die Menschen in diesem Ambiente riesige Kaninchenköpfe tragen.

Und da ist diese ebenso berühmte wie distinguierte Schauspielerin, Nikki Grace, in den Dreißigern vielleicht; sie erhält in ihrer schlossähnlichen Villa den Besuch einer rätselhaften neuen Nachbarin (Grace Zabriskie, die wir kennen aus 'Lynchville'), die mit riesigen Augen, seltsamen Sprüchen und einem offenkundig osteuropäischen (polnischen) Akzent ein böses Spiel eröffnet. Es beginnt mit dem üblichen Smalltalk, dessen Doppelbödigkeit noch nicht bemerkt werden muss („I hear you have a new role“), und findet sich zu zwei kleinen Parabeln, polnischen Märchen, angeblich: Als der Junge hinaus in die Welt ging, um zu spielen, wurde das Böse geboren und folgte ihm. Als das Mädchen hinausging, um zu spielen, verlor es sich auf dem Marktplatz. Die Frau scheint von Nikki Grace viel zu viel zu wissen, um eine harmlose Nachbarin zu sein. Und noch etwas nimmt sie vorweg, den Fall einer zivilisierten Konversation in die Welt der schmutzigen Wörter. Dass sie „that kind of talk“ nicht dulden mag, sagt Nikki, was sich auf die obszönen Wörter wie auf die Prophetien des Gastes beziehen mag. Denn die „Nachbarin“ hat Nikki davor gewarnt, die Rolle anzunehmen, die ihr für das Projekt „On High in Blue Tomorrows“ angeboten ist. Dort, sagt sie, warten die Dämonen. Wie wahr.

Das 'Orakel' der neuen Nachbarin ist nicht nur eine Darstellung dessen, was in der Welt des (kinematografischen) Rollenspiels geschieht, es ist eine Deutung des Kommenden, wenn auch weder die einzige noch gar die 'richtige'. Aber die einfachste Zugangsweise zu INLAND EMPIRE ist, das Gespräch zwischen der Nachbarin und Nikki Grace gleichsam Wort für Wort als Modell für das kommende Geschehen zu benutzen wie auch die Konstellation der Rabbits-Show. Es ist, genauer gesagt, eine Prophezeiung, die Nikki genug versteht, um sie mit Angst zu erfüllen, und zu wenig, um sich gegen das kommende Unheil zu wappnen. „Ees eet about marriage?“, fragt die Nachbarin nach der listigen Art der Hexen. Genau darum wird es gehen. Wieder also erzählt der Film die Geschichte einer Schauspielerin, die bei der Filmarbeit die Rückkehr in die Wirklichkeit verpasst und immer tiefer von einem Albtraum in den anderen fällt, aber er erzählt zugleich die Geschichte einer Ehe, eines Betruges, einer Eifersucht und eines Mordes.

Die Proben für den Film beginnen. Der Regisseur Kingsley, gespielt von Jeremy Irons als sehr britisches Selbstzitat, erklärt, dass der Film schon einmal in Polen gedreht werden sollte. Aber die beiden Hauptdarsteller wurden ermordet, und die Dreharbeiten abgebrochen. Die Story gehe im Übrigen auf eine alte Zigeunerlegende zurück, als sei das noch nicht Fluch genug. Aber Nikki und ihr Co-Star Devon lassen sich ihre Chance davon nicht nehmen; für Nikki ist es vor allem eine Chance für ein Comeback, die letzte vielleicht. Aber etwas anderes ist offensichtlich noch wichtiger: Die Ehe an der Seite des eifersüchtigen reichen polnischen Mannes (Peter J. Lucas) kann sie nicht ausfüllen, das Spielen vor der Kamera ist ihre einzige Chance, der Unzufriedenheit, ihrem Gefängnis zu entkommen. Es geht nicht nur um die Karriere, es geht um das Leben. Aber der Mann erkennt die Gefahr. Wenn sie eine Affäre mit Devon beginne, so warnt er sie, werde das ernste Konsequenzen haben. Nikki sehnt sich danach, diese Grenze zu überschreiten, und so verliert sie die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit am Leitfaden der Sexualität. Der Albtraum, oder die Abfolge der Albträume, das ist, wir sind noch auf der Ebene der einfachen Erklärungen, das Ineinander von Begehren und Verbot. Das Umkreisen von Lust und Angst. Traumarbeit. Ausgelöst von einem der dunklen Väter, die ihren Besitz, die Frau, mit unsagbarer Gewalt zu behaupten pflegen in Lynchville. Ob nun Nikki und Devon eine Affäre miteinander haben oder doch 'nur' Sue und Billy, die Figuren, die sie spielen, das verliert seinen klaren Unterschied. Aber das ist nicht so verwunderlich. Träumen wir nicht, was wir nicht leben dürfen? Und träumen wir nicht für jede Sünde auch die Strafe mit?

Das Ganze ist ja auch deutbar als ein Märchen, von Hänsel und Gretel vielleicht hat auch die Nachbarin gesprochen, oder ist Nikki Grace ein neues Schneewittchen, das von der bösen Hexe den vergifteten Apfel erhalten soll? Erinnern wir uns, er bestand aus einer gesunden und einer tödlichen Hälfte. Und darum muss Schneewittchen fliehen, in eine Wildnis, wo sie, zum Beispiel bei sieben Zwergen (bei sieben Huren, sieben Tänzerinnen des 'Loco-Motion') Zuflucht sucht, fliehen davor, ermordet zu werden oder selbst zur Mörderin zu werden. Zweifellos hat sie eine Doppelgängerin (aber die Doppelgängerin hat wiederum eine Doppelgängerin); ein alter Film spukt in einem neuen, einer, der nie beendet wurde, in einem, der gerade entstehen soll. Mehr und mehr vermischen sich Film, Wirklichkeit und Film-im-Film. Von einer Tür zur anderen wird die Situation der Heldin trostloser und verzweifelter, mehr und mehr muss sie sich als vollkommen allein gelassen empfinden, mehr und mehr ist Angst ihr Begleiter. Hinter der eher melodramatischen Geschichte von 'On High in Blue Tomorrows' lauert eine andere, finstere Geschichte. Sue Blue oder Nikki Grace, Gnade oder Dunkelheit, befinden sich dabei in einem dunklen Haus, zusammen mit einer Gruppe von Frauen, ein Chor von Huren, und sie verbinden die Geschichte mit einer anderen, die in einer winterlichen polnischen Stadt, irgendwann in den Dreißigerjahren spielt, und auf dem schmutzigen Hollywood-Boulevard der Gegenwart. Und von da an zurück zur Herstellung eines Films. Worum es indes immer geht: die Macht der Männer und die Leiden der Frau.

Nikki 'stirbt' vor der Kamera, und Lynch gönnt ihr, in der Gemeinschaft Gestrandeter auf der Straße, die alle wieder ihre Geschichten haben, eine bemerkenswert schöne Szene. Aber so endet Lynch nicht - noch einmal muss Nikki die Seiten wechseln, und sie wechselt konsequent auf die der Zuschauer. Im Kinosaal schaut sie sich selber auf der Leinwand an, diesen Raum zwischen dem Film und uns hat Lynch bislang ausgespart, und sie fällt sogleich zurück in den Traum (in den Kaninchenbau unter dem Kaninchenbau); umgekehrt endet der Film mit einer direkten Ansprache der Schauspieler an die Zuschauer, sie müssen uns versichern, dass es 'nur' ein Film war (und natürlich nährt genau diese Versicherung den Zweifel daran). Die beiden Frauen verabschieden sich gleichsam vor dem Vorhang; „hot weird“ sagt die eine, wie um das Urteil des Zuschauers vorwegzunehmen.

Wie 'Mulholland Drive' kann man auch Inland Empire vergleichsweise einfach in seiner Komposition beschreiben: Es ist eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte, die mehr oder weniger die Geschichte ist, die vor der ersten Geschichte lag. Die Anzahl der Pforten entspricht der Anzahl der inneren Geschichten, diese wiederum entspricht der Anzahl der medialen Spiegelungen; zwischen den Geschichten gibt es wiederum die gleiche Anzahl von Beziehungen. Am Ende hat sich eine Geschichte buchstäblich enthüllt, indem sie ihre eigene Geschichte erzählt hat, die wiederum … Wie gesagt, es ist eine durchweg logische und konsistente Konstruktion. Aber damit ist nicht mehr gesagt als die Behauptung, eine Chopin-Etüde folge einer musikalischen Logik, um genau dorthin zu gelangen, wo auch die musikalische Logik nicht mehr zählt.

In INLAND EMPIRE ist Lynchs Kino zum Kino der Frau geworden, die das Kunstwerk in die Welt bringt, unter Schmerzen, gewiss. Laura Dern ist dabei die perfekte Lynchian woman; es ist nicht nur ihre Wandlungsfähigkeit und ihr Mut zur Entäußerung, sondern vor allem die Bereitschaft, das Subjekt und das Objekt des Märchens der Exploration zugleich zu sein. Komplizin in einer Forschungsreise und Opfer gleichermaßen. Lynch bedankt sich mit einer Zärtlichkeit, die er bislang noch keinem seiner Frauencharaktere gegenüber gezeigt hat; er zeigt das Leiden der Frau diesmal ganz ohne den Sadismus, den er vorher gelegentlich entwickelte. Man könnte fast meinen, INLAND EMPIRE sei ein Bild der Angst, das sich selber von der Angst befreit. Ein Lynch-Film, der zu einem Laura-Dern-Film wird. Vielleicht könnte man aber auch einfach behaupten, INLAND EMPIRE sei David Lynchs erster Liebesfilm.


Letzter Teil eines Essays von Georg Seeßlen © 2007 EDP Film. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die hier wiedergegebene Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.

"Von der Kunst zum Kino und zurück" - Teil 1: DAVID LYNCH

[Georg Seeßeln in der EPD Film 4/2007 über David Lynch und INLAND EMPIRE]

David Lynch gehörte in den Achtzigerjahren zu den wenigen Regisseuren, die nach dem Scheitern von New Hollywood eine sehr eigenwillige Filmsprache in die Traumfabrik retten konnten: ein Autor, dessen Karriere vom Kampf des Künstlers mit dem Apparat gekennzeichnet war und an Höhen und Tiefen reicher war als die der meisten Filmemacher seiner Generation. Frühen Ruhm brachte ihm der unter den Bedingungen des Underground Movie entstandene 'Eraserhead' (1976) ein, ein düsteres, verschlüsseltes, albtraumhaftes und zugleich tief komisches Werk, das ebenso gut in die Kultvorstellung der Midnight Movies wie in die Kunstgalerien passte. Mit 'Der Elefantenmensch' (1980) bewies Lynch, dass er auch mit den Gegebenheiten der professionellen und arbeitsteiligen Filmindustrie umgehen und Narrationsregeln befolgen konnte, ohne seinen Stilwillen zu verlieren. Aber dann entstand mit der Verfilmung von Frank Herberts 'Dune – Der Wüstenplanet' (1984) ein wahres Fiasko, das Dokument eines verlorenen Kampfes, eine der schönsten Filmruinen der Kinogeschichte. Jemand wie Lynch konnte das mittlere Kino der Qualität revolutionieren, nicht aber das Fantasy-Blockbuster-Kino.

Eine Art Friedensangebot zwischen der Produktion De Laurentiis und dem Autor war die Möglichkeit, einen „kleinen“ Thriller zu drehen, und so entstand 'Blue Velvet' (1986), ein verstörender Blick auf die Nachtseite der amerikanischen Provinz und eine Reise ins Unbewusste mit ganz und gar neuen Mitteln. 'Blue Velvet' war wie ein Aufbruchsignal für ein Kino, das man später „postmodern“ nannte und das sich vom Diktat der klassischen Script-Logik zu befreien begann. Und mit 'Blue Velvet' begann auch die Arbeit der internationalen Lynch-Dechiffrierungsverschwörung; an keinem anderen Regisseur arbeiteten sich die Fans, die Kritiker, die Theoretiker und Leute, die von alledem ein bisschen sind, so ab wie an den geheimnisvollen, anspielungsreichen, irritierenden, traumhaften, mehrfach übermalten, ironischen, gewaltsamen und nicht zuletzt ungeheuer schönen Bildern von David Lynch.

Mit 'Wild At Heart' (1990) drehte Lynch eine furiose, aber gegenüber dem streng komponierten 'Blue Velvet' fast verspielte und zugleich in seinen Gewaltszenen sogar als obszön empfundene Variation seiner Motive, die das gerade erst entstandene Lager der Lynch-Aficionados auch schon wieder spaltete. Erneut drohte Lynch wieder vom Zentrum an die Peripherie der Bilderfabrikation gedrängt zu werden, zumal er sich zwischen den Filmprojekten eher für den Kunst- als für den Kinodiskurs interessierte. Zwischen den Filmen organisierte er Ausstellungen seiner Gemälde, seiner Fotografien und seiner Möbelkreationen, drehte bizarre Musikclips wie „Industrial Symphonies“ und verweigerte sich, gewiss gestützt auf seinen mittlerweile unbestrittenen „Kult-Status“ zwischen Pop und Kunst und Hollywood, zwischen Trash- und High-Culture, zwischen Europa und den USA, den üblichen Traumfabrikritualen.


Das nächste große Comeback war die gemeinsam mit Mark Frost konzipierte Fernsehserie 'Twin Peaks' (1989), ein „Mystery-Crime avant la lettre" und eine lange, mäandernde Reise in den sozialen und sexuellen Untergrund einer kleinen Stadt im Norden der USA. Satire, Mysterienspiel, Krimi und das Spiel mit den Lynchismen machte eine Fangemeinde süchtig; 'Twin Peaks' wurde zu einem der größten Fernseh-Kulte der frühen Neunzigerjahre. Noch einmal gelang das Kunststück, eine ganz und gar eigensinnige, provokative und nach wie vor geheimnisvolle Bildwelt auf dem Mainstream-Markt durchzusetzen. Lynch musste nach Abschluss der Serie noch einmal an diesen magischen Ort zurückkehren, und mit dem Kinofilm Twin Peaks: 'Fire Walk With Me' (1992) drehte er einen Nachklang, der beide Zuschauergruppen ratlos machte, jene, die sich eine Fortsetzung, und jene, die sich eine Erklärung für die TV-Serie gewünscht hatten. Zumindest kommerziell ausgesprochen glücklose weitere Fernsehprojekte wie 'On the Air' folgten, Werbeclips für Yves Saint Laurent und Calvin Klein, gescheiterte Projekte wie eine Verfilmung von Franz Kafkas 'Verwandlung'. Der Film 'Lost Highway' (1996) entstand dann schon unter ganz anderen Produktionsbedingungen. Gedreht wurde in Lynchs eigenem Haus, für die bescheidene Budgetierung sorgten die europäischen Partner von Canal plus. In den USA reichte der Film nicht mehr über den Kreis der Arthouses hinaus, und während sich die Dechiffrierungskommandos wieder auf die endlos geflochtene Geschichte vom Mörder, der sich in einen anderen verwandelt, und auf eine Geschichte, die die Unterseite einer anderen Geschichte ist, stürzten, blieb die Begeisterung des Kults ebenso aus wie die Anerkennung durch das 'offizielle' Hollywood. In den Film- und Philosophieseminaren Europas freilich war 'Lost Highway' Anlass für wahrhaft unendliche Bearbeitung.

In einer Geste, der man durchaus Ironie unterstellen könnte, drehte David Lynch 1999 daraufhin den Film, den niemand von ihm erwartet hätte, und nannte ihn 'The Straight Story' (deutsch: 'Eine einfache Geschichte'). Eine sehr menschliche, scheinbar einfache Geschichte von einem alten Mann (namens Straight), der vor seinem Tod seinen Bruder noch einmal sehen möchte, um sich nach langem Streit mit ihm zu versöhnen, und der dafür mit einem umgebauten Rasenmäher durch Amerika reist (durch ein Amerika, an dem an allen Ecken und Enden die Lynchsche Unterwelt aufzubrechen droht). Hatte Lynch seinen Frieden mit Amerika und seinen straight stories gemacht? Mit 'Mulholland Drive' (2001) kehrte der Regisseur zu seiner irrealen, verspiegelten und verflochtenen Erzählweise zurück; wieder erzählt er die Geschichte eines Menschen - diesmal ist es eine junge Schauspielerin, die nach Hollywood kommt -, der über die Grenzen zwischen verschiedenen Geschichten und verschiedenen Identitäten gerät. 'Mulholland Drive' versöhnte die Aficionados des Lynchismus, durch die düster-schöne Stimmung, den Sex Appeal, die Musik und die Musikalität, den Reigen der Motive und Obsessionen dieses Künstlers. Und noch einmal schaffte es David Lynch, das Kino mit seiner Kunst zu erobern. Aber in die veränderte Filmlandschaft passte ein Film wie 'Mulholland Drive' nicht mehr als Signal ästhetischer Revolte, sondern nur noch als respektierter Klassiker der Filmmoderne. Nur wenige Kritiker bemerkten, dass David Lynch dabei nicht nur eine Perfektion seiner Mittel erreicht, sondern auch im eigenen Werk einen großen Schritt nach vorn gewagt hatte. Konnte man die Filme von David Lynch bis 'Lost Highway' als verschlüsselte, magische Autobiografien (und mystische, satirische Amerika-Bilder) lesen, so wendet er sich in den Film-im-Film-Filmen mit den weiblichen Hauptfiguren vor allem dem eigenen Medium und der eigenen Kompositionslehre zu.

Sex, Gewalt, Schrecken, Schock, Albtraum, Wunder, der Tod und etwas, was jenseits von ihm geschieht, umgekehrte Geburten, bizarre Gestalten aus Märchen, die aus den Fugen geraten sind, die Lynch-Ikonografie der Hotelflure und Flackerlichte, seltsamen Bühnen hinter schweren Vorhängen, die Ästhetik der Verlangsamung, das industrielle Rauschen aus einer fremden Außenwelt, die schrägen Musiknummern dazwischen, die Übertragung von Ähnlichkeiten in Fremdheiten, die Traum-im-Traum-Sequenzen, die Transzendenz-Bilder, die absurden Americana, David Lynch-regulars, die Konstruktion der Handlung in autonomen Zellen, die Wiederkehr von Zeichen und Farben, selbst die Bewegung der Protagonisten am Leitfaden von Angst und Begehren - all das gibt es auch in David Lynchs neueren Arbeiten. Aber es ist mit einem solchen Formbewusstsein und mit solch innerer Harmonie bearbeitet, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, die größte denkbare Weltpanik sei da mit der größten möglichen Ich-Gelassenheit verbunden.

David Lynchs Hinwendung zur 'transzendentalen Meditation' und zur 'Foundation for Consciousness-Based Education and World Peace' hat seine Filme offensichtlich an der Oberfläche nicht friedlicher und harmonischer gemacht. Würde man dies innerhalb eines Lynch-Filmes sehen, so wäre ohnehin nicht zu klären, wie viel Ironie und Brechung es enthält. Und doch ist das System Lynch offener geworden. Und die Sehnsucht nach dem harmonischen Maß so überwältigend wie die Zärtlichkeit gegenüber dem einsam leidenden Menschen. Die Produktionsbedingungen für Lynchs Filme entfernen sich zunehmend von denen der Traumfabrik und nähern sich denen des solitären Künstlers an. Inland Empire hat er selber finanziert, mit ein wenig Hilfe von Canal plus. Lynchs Frau Mary Sweeney übernahm die Produktion, und über das Budget herrscht Stillschweigen, vielleicht weil es im traditionellen Sinn ganz einfach nicht existierte. Die Stars werden ganz sicher nicht die Gagen erhalten haben, wie sie sie aus ärmeren Hollywoodproduktionen gewöhnt sind, und ihren Marktwert werden sie nicht unbedingt erhöhen; sie arbeiten aus anderen Motiven mit David Lynch. In die Kinos der USA kam der Film nicht mehr über einen normalen Verleih; der Regisseur musste die Distribution und die Werbung (vorzugsweise über das Internet) selbst übernehmen. Ein Armutszeugnis für die amerikanische Filmkultur, schimpften Kritiker, die den Film mehrheitlich mit Sympathie erwarteten. Aber vielleicht eine vollkommen konsequente Entwicklung. Lynchs 'Bewerbung' für den Oscar war eine entsprechende Aktion zwischen Poesie und Protest: Er führte eine Kuh auf dem Sunset Boulevard spazieren, um darauf aufmerksam zu machen, dass Laura Dern den Academy Award verdient hätte. Dort aber, wohin David Lynch und Laura Dern in Inland Empire hingelangt sind, gibt es keine Oscars mehr.

(... to be continued ...)

Erster Teil eines Essays von Georg Seeßlen © 2007 EDP Film. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die hier wiedergegebene Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.

Tuesday, April 24, 2007

DIE SCHAUSPIELER


Laura Dern ... ist: Nikki Grace ... ist: Susan Blue
Jason Weinberg
... ist: Nikki Graces Manager

Justin Theroux
... ist: Devon Berk ... ist: Billy Side
Cameron Daddo
... ist: Devon Berks Manager
Austin Jack Lynch
... ist: Devon Berks Fahrer
Heidi Bivens
... ist: Devon Berks Gadrobiere
Julia Ormond ... ist: Doris Side, Billys Ehefrau

Jeremy Irons ... ist: Kingsley Stewart, der Regisseur
John Churchill
... ist: Chuck Ross, der First Assistant Director
Phil DeSanti
... ist: Tim Hurst, der Second Assistant Director
Chamonix Bosch
... ist: Sally Irwin, der Third Assistant Director
Scott Andrew Ressler
... ist: der Kameramann
Sara Glaser
... ist: Ellen Thomas, das Scriptgirl
Neil Dickson
... ist: der Produzent
Edward St. George
... ist: der Hair Stylist

Harry Dean Stanton
... ist: Freddie Howard

Nastassja Kinski ... ist: die Frau im gelben Keid auf der Couch

Peter J. Lucas
... ist: Piotrek Krol

Karolina Gruszka
... ist: das 'Lost Girl'

Jan Hencz
... ist: Janek

Krzysztof Majchrzak
... ist: das Phantom

Grace Zabriskie
... ist: die Besucherin

Diane Ladd
... ist: Marilyn Levens
Melissa Lowndes
... als: Marilyn Levens Assistentin
Marsha Lewis
... als: Marilyn Levens Hair Stylist

Ian Abercrombie
... ist: Henry, der Butler

Karen Baird
... ist: die Bedienung

Bellina Logan
... ist: Linda

Amanda Foreman
... ist: Tracy

Jeremy Alter
... ist: der Bühnenmanager

William H. Macy
... ist: der Präsentator

Randy Johnson
... ist: Studio Security Kraft # 1

Duncan K. Fraser
... ist: Studio Security Kraft #2

Stanislaw Kazimierz Cybulski
... ist: Herr Zydowicz
Henryka Cybulski
... ist: Frau Zydowicz

Robert Charles Hunter
... ist: Hutchinson, der Detektiv

Ewa Jerzykowski
... ist: die Dienerin

Emily Stofle
... ist: Lanni
Jordan Ladd
... ist: Terri
Kristen Kerr
... ist: Lori
Kat Turner
... ist: Dori
Terryn Westbrook
... ist: Chelsi
Jamie Eifert
... ist: Sandi
Heidi Schooler
... ist: Lilli
Michelle Renea
... ist: Kari bzw. Carrie

Adam Zdunek
... ist: der Mann auf der Straße

Erik Crary
... ist: Mr. K

Wendy Rhodes
... ist: Salli

Mikhaila Aaseng
... ist: Tammi

Stanley Kamel
... ist: Koz Kakawski

Marek Zydowicz
... ist: Gordy

Scott Coffey
... ist: Jack Rabbit
Laura Harring
... ist: ein Hase
Naomi Watts
... ist: ein Hase

Alexi Yulish
... ist: der 'Star Doctor'

Keith Kjarval ... ist: der Lumberjack

"Den Traum, Filme zu machen, den liebe ich."

[David Lynch im Interview mit DIE ZEIT zu INLAND EMPIRE]

Herr Lynch, im November letzten Jahres haben Sie sich mit einer Kuh auf den Hollywood-Boulevard gestellt, neben einem Plakat mit der Aufschrift „For Your Consideration“, um auf die oscarreife Leistung Laura Derns in INLAND EMPIRE aufmerksam zu machen. Was sollte die Kuh?

Ich hatte nicht das Geld, die üblichen Wege zu beschreiten, um die Academy auf Lauras Leistung hinzuweisen. Also hatte ich die Idee mit der Kuh, die fast nichts kostete, aber als Nachricht in der ganzen Welt die Runde machte. Leider hat sie Laura trotzdem keine Oscar-Nominierung eingebracht. So gesehen, ist die Sache gescheitert.

Woher hatten Sie das Tier?

Das war eine Mietkuh, die auch in Werbeclips aufgetreten war. Georgia, das ist ihr Name, hat schon für Milch Werbung gemacht. Sie war ein unglaublicher Profi, sie stand einfach nur da und war ganz sie selbst.

Was stand am Anfang von INLAND EMPIRE?

Ich traf Laura Dern auf der Straße. Ich stand vor meinem Haus, sie kam des Wegs, lächelnd, und erzählte mir, dass sie mein neuer Nachbar ist, worüber wir beide sehr glücklich waren. Sie sagte, wir sollten mal wieder zusammen was machen. Und ich sagte, yeah, machen wir, und fing an, über sie nachzudenken, und plötzlich kamen lauter Ideen.

Wann wurden sie zu einer Geschichte?

Es geht immer auf dieselbe Weise los. Mein Bild dafür ist, dass jemand im Zimmer nebenan vor einem fertigen Puzzle sitzt und mir einzelne Stücke davon zuwirft. Ich weiß anfangs nicht, was es bedeuten soll, ich weiß nur, dass ich dieses kleine Puzzlestück mag. Ich schreibe es auf, und dann kommt noch ein Stück, und ich schreibe es wieder auf, und nach und nach wird das Bild klarer und entwickelt sich.

Einer der vielen Handlungsstränge in INLAND EMPIRE ist eine surrealistische Sitcom über Leute mit Hasenköpfen, die Sie für Ihre Website davidlynch.com gedreht haben. Woher kam dieses Puzzlestück?

Wissen Sie, wann immer man eine Idee hat, ist sie in deinem Kopf, ein mentales Bild, und dann muss man sie in ein anderes Medium übersetzen. Wenn es ein Film ist, muss man eine Kulisse bauen, es sei denn, man findet einen Ort, der dem genau entspricht. Die Idee führt einen. Was immer man braucht, findet man, oder man organisiert es.

Die Hasenköpfe mit den Fernsehdialogen und den eingespielten Lachern vom Band sind irgendwie unheimlich, beängstigend.

Naja, alle Menschen sind verschieden.

Finden Sie sie nicht beängstigend?

Es kommt nicht darauf an, was ich denke, sondern was Sie denken. Ich habe die Sache mit den Hasen sehr früh gedreht, aber erst mal beiseite gelegt. Wenn eine Idee kommt, weiß man nie, wo ihre erste oder zweite Heimat sein wird. Man weiß nie, welche Richtung die Dinge nehmen werden.

Ein wesentlicher Teil des Film ist in der polnischen Stadt Lodz entstanden, die Sie bei einer Reise zum dortigen Filmfestival Camerimage entdeckt haben. Was wäre gewesen, wenn Sie nicht nach Lodz gefahren wären, sondern in irgendeine andere Stadt? Wäre INLAND EMPIRE dann vielleicht gar nicht entstanden oder als ein ganz anderer Film?

Ich war an vielen Orten in jenen drei Jahren, die ich an dem Film gearbeitet habe, aber die Ideen kamen mir nun mal in Lodz und nicht anderswo. Interessant, nicht? Die Ideen zu INLAND EMPIRE sind dort entstanden und haben sich dann mit anderen Ideen verbunden, die in Hollywood entstanden sind. Das sind nicht meine eigenen Erfahrungen, es sind Bilder, die aus dem Ort selbst entspringen. Orte erzeugen ihre eigenen Gedanken. Ich muss sie nur auffangen. Man kann das mit einem Koch vergleichen, der den Fisch ja nicht macht, sondern ihn fängt und dann kocht. Da ist also der Fisch, und man sagt „Wow!“ und verliebt sich in ihn.

Was mochten Sie an Lodz?

Großartige Architektur. Phantastische Stimmung im Winter. Tiefhängende Wolken und Winterlicht.

Eine Atmosphäre von Zeitlosigkeit?

Für mich war es brandneu.

Die Frage bleibt, wie die einzelnen Teile bei Ihnen zusammenkommen.

Sie ergeben immer ein Ganzes. Manchmal ist es frustrierend, dass sie nicht in der logischen Reihenfolge kommen, aber das ist eben Teil des Prozesses. Das war schon mein ganzes Leben so, dass die Filme sich mir Stück für Stück offenbaren und ich nicht weiß, was das Ganze ergeben wird, ehe es da ist. Üblicherweise schreibe ich ein Drehbuch und füge die szenischen Ideen darin ein. In diesem Fall war es anfangs so, dass ich keine Ahnung hatte, was die Szenen miteinander zu tun haben. Aber je mehr kamen, desto klarer sah ich, wie alles zusammenhängt.

Passierte das im Schnitt oder schon bei den Dreharbeiten?

Die zweite Hälfte ist mehr auf die traditionelle Weise entstanden, weil ich zu diesem Zeitpunkt meine Einfälle zusammenhatte. Wenn man am Schneidetisch dann das Ganze sieht, ergibt sich wieder ein anderer Prozess, weil einige Dinge wegfallen und andere hinzukommen.

Überrascht es Sie manchmal, dass Sie in Hollywood ein Außenseiter sind?

Kein bisschen. Ich habe als Maler angefangen und mich für Film gar nicht interessiert. Ich hatte Glück, weil ich Film als etwas ganz anderes sehe, als es in Hollywood üblich ist. Ich liebe Hollywood als Ort zum Leben. Ich arbeite aber nicht im System. Ich habe nie einen traditionellen Studiofilm gedreht.

Aber man spürt Ihre Liebe zu alten Filmen.

Ich liebe Hollywood, ich liebe die ganze Chose. Den Traum, Filme zu machen, den liebe ich. Ich bin nur nicht drin.

Woher kommt die Zahl 47, die in INLAND EMPIRE eine düstere, magische Bedeutung hat?

Sie war plötzlich da. Ich sehe solche Dinge, so wie ich ein Stück Film sehe. Manchmal taucht etwas auf, und dein Gehirn fängt an zu arbeiten an, um dahinterzukommen, was die Dinge bedeuten, die dir auf deinem Weg begegnen. Für mich hat diese Zahl eine bestimmte Bedeutung, aber darüber rede ich nicht. Wie das mit abstrakten Ideen so ist: sie ergeben für jeden einen anderen Sinn.

Ein wiederkehrendes Motiv in Ihren Filmen, auch in INLAND EMPIRE, ist die untreue Ehefrau. Untreue ist in Ihrem Kosmos ein Art Kapitalverbrechen. Wie kommt das?

Keine Ahnung. Es muss wohl was mit mir zu tun haben, weil ich ganz vernarrt in die Sache bin.

Auch Häuser spielen eine wichtige Rolle in Ihren Filmen. Sie sind Orte der Angst, der unheimlichen Begegnungen, der Klaustrophobie. Auf Ihren Zeichnungen und Gemälden werfen sie düstere Schatten. Haben Sie schlechte Erfahrungen mit Häusern?

Das hat nicht wirklich was mit mir zu tun. Ich habe keine Angst vor meinem Haus. Aber ich begreife, dass man sich in einem Haus fürchten kann, wenn man nicht weiß, was sich am Ende des Flurs befindet. In der Welt ist es doch genauso: Wir fürchten das Unbekannte und sind doch davon angezogen.

Das Schweigen um die Ecke?

Das Unbekannte um die Ecke. Die Vorstellung, dass da auch etwas unter der Oberfläche ist. Dinge, die man spürt, über die man aber nichts Genaues weiß. Ein Gefühl eben.

Welche Anweisungen geben Sie Ihren Schauspielern?

Was immer es braucht, um sie dazu zu kriegen, auf derselben Wellenlänge wie die Ausgangsidee zu existieren. Der Gedanke ist da, die Schauspieler sind da, und wir proben. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen, manchmal sind sie näher dran, manchmal weiter weg. Wenn sie nur knapp danebenliegen, muss man mit Worten versuchen, zu kommunizieren, was falsch an ihrem Ansatz war. Und irgendwann fangen sie etwas auf, was meiner Vorstellung entspricht, manchmal nur für eine einzelne Szene, manchmal für die ganze Rolle. Dann braucht es nur noch wenige Worte: Erinnere dich hieran, erinnere dich daran.

In Ihren Filmen gibt es keine Handys. Hassen Sie Mobiltelefone?

Naja, ich mag eben zeitlose Ausstattung. In „Eraserhead“ gab es auch keine Autos. Das ist keine bewusste Entscheidung. Es ist nur so, dass man etwas sieht und sich sagt, nein, nein, das ist es nicht. Außerdem ändert sich die Technologie so schnell, dass Mobiltelefone bald wieder alt aussehen werden.

Was mochten Sie an Lodz?

Großartige Architektur. Phantastische Stimmung im Winter. Tiefhängende Wolken und Winterlicht.

Eine Atmosphäre von Zeitlosigkeit?

Für mich war es brandneu.

Hat die Digitalkamera Ihr Verhältnis zum Filmemachen verändert?

Sehr sogar. Sie hat mir viel mehr Freiheit gegeben, mehr Vergnügen am Drehen und das Gefühl, wesentlich weniger Druck zu haben. Ich vergleiche es mit zwei Arten von Lebensgefühl: Das eine ist ein Donnerstagmorgen, du hast nicht gut geschlafen, der Wecker hat nicht geklingelt, keine Zeit für ein ordentliches Frühstück, noch nicht einmal für eine gute Tasse Kaffee, es regnet, du stehst im Stau und hast ein superwichtiges Treffen mit einem Boss, der dich auf dem Kieker hat. Diese Art finsteren Schreckens macht einem anderen Lebensgefühl Platz, das wie ein Samstagmorgen ist, die Sonne scheint, du wachst total erfrischt auf, isst dein Lieblingsfrühstück, hast ein ganzes Wochenende vor dir mit Zeit für alles, was du schon immer machen wolltest. Die Leute sagen natürlich, wenn du das alles so toll findest, David, wie kannst du dann solche schrecklichen Geschichten erzählen?

Und? Wie kann man?

Wenn man von Anfang bis Ende nur vom Glück erzählt, würde man sich zu Tode langweilen. Geschichten leben von Kontrasten. Am Ende läuft es doch darauf hinaus, dass der Künstler nicht selbst leiden muss, um Leiden zeigen zu können. Man muss das Leid verstehen und die Geschichten, die daraus entspringen. Das nennt sich atma, das Selbst, ein Ozean des reinen Bewusstseins. Es heißt, erkenne dich selbst, das ist das Feld, das ist es, wo alles herkommt, uns eingeschlossen, das ist unsere Heimat. Man ist hier und genießt es und versteht immer mehr, und man wird ganz verrückt und steht frühmorgens schon auf mit einem Kopf voller Ideen, und alles, was einen bis dahin gequält hat, hebt sich wie ein Gewicht von dir.

Aber Sie müssen doch immer noch diese düsteren Seiten in sich haben. Diese Frau mit dem Schraubenzieher im Bauch, das ist ja nicht etwas, was man sieht, wenn man glücklich ist.

Diese Gedanken machen mich glücklich, ich schwöre es Ihnen. Ich liebe diese Geschichte, ich weiß nicht, warum ich sie so sehr liebe, aber so ist es. Ich liebe, was das Kino damit macht, ich liebe den Trip, der da abgeht.

Das Interview führten Michael Althen und Andreas Kilb © 2007 DIE ZEIT. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die in der ZEIT wiedergegebene Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.

Monday, April 23, 2007

INLANDTERPRETATION

Viel ist bislang in INLAND EMPIRE hinein interpretiert worden, was ebenso natürlich wie gewollt ist. Hier folgt eine Inlandterpretation, die sich eng an im Film gesprochene Sätze hält.

IE ist in erster Linie ein Frauen-Film, der aus Sicht einer Frau über eine Frau im Schwierigkeiten erzählt. In zweiter Linie geht es um eine Frau in Liebe. In dritter Linie um Untreue, deren Folgen, ihre Vermeidbarkeit und in vierter Linie um eine Seelenrettung, die ohne das komplexe Konstrukt der "Welten innerhalb von Welten" nicht möglich werden würde. IE ist ebenso unzweifelhaft ein Märchenfilm, extremer zwar, als die Legende von Hänsel und Gretel (die sich im Wald verliefen), aber die Parameter sind die gleichen. Eckpunkte bei IE sind die Zeitebenen 'Gestern', 'Heute' und 'Morgen' - Lynch praktiziert über sie fortwährend eine Verschiebung von Raum und Zeit.

Da es in INLAND EMPIRE hauptsächlich um die Figur Laura/Nikki/Susan Blue/Grace/Dern geht, sucht man zuerst nach direkten Verbindungen zwischen
Laura/Nikki/Susan Blue/Grace/Dern ... und findet deren Namenssilbengleichheit. Unzweifelhaft (weil wie ein Schüssel*) ist David Lynchs Erklärung, dass Laura ihn einst besuchte, um ihm vom INLAND EMPIRE und ihrem Mann Ben Harper zu erzählen und wie gut es ihr jetzt dort ginge. Ganz im Gegensatz zu früher, damals, als sich Billy Bob Thornton von ihr getrennt hatte, um mit Angelina Jolie zusammen zu leben (die sich später von diesem trennte um mit Brad Pitt zusammen zu leben), da habe sie, Laura, nur "eine finstere Zukunft" gesehen. Dies war wohl die Geburt von Billy 'Bob' Side und des Films an sich. Man spürt förmlich David Lynchs Ideen fließen, als Laura/Lula ihm aus ihrem Leben erzählte.

Schon bei diesem Gespräch stand, so Lynch, der Titel für das Projekt fest: INLAND EMPIRE. Und schon nach wenigen Sätzen Derns verliebt sich in Lynchs Gedankenwelt Laura/Susan verhängnisvoll in Billy ("Ist es wirklich möglich, die treue Ehefrau zu bleiben, mit dem Wolf vor der Tür?"*). Aber war dies nicht eine der Blaupausen, die das Leben in seinem großen Fundus stets vorrätig hat? Oft kopiert und schon verbraucht? Vielleicht im Drehbuch eines früheren Films namens 'On High In Blue Tomorrows', das den Hauptdarstellern verschreibt, sich ebenso ineinander zu verlieben wie ihre Figuren Susan und Billy, genauso wie das viele Jahre zuvor ebenso in
'Vier Sieben / Siebenundvierzig' ("angeblich ein verfluchter Ort" erzählt Kingsley Stewart) geschah mit den beiden damaligen Hauptdarstellern. Da stoppt Lynch seine Gedankenwelt, weil weitere Verschachtelungen weder notwendig noch weiter logisch handelbar wären. CUT & REVIEW: Piotrek Krol, der eifersüchtige polnische Ehemann der polnischen Hauptdarstellerin in 'Vier Sieben' (es ist der gleiche, welcher heute Nikkis wirklicher Ehemann ist) bemerkt die Affäre, da seine Frau schwanger ist (er selbst kann keine Kinder zeugen) und er tötet den polnischen Hauptdarsteller. Obwohl man diese Tat in IE nicht sieht, ist er die erste der beiden Leichen, die das Ende von 'Vier Sieben' bedeuteten. Dann misshandelt Krol seine Frau und die dadurch fast das ungeborene Kind verliert. Damit aber nicht genug: die eifersüchtige Ehefrau und Witwe des Hauptdarstellers (Lynch transformiert sie im Film zur Ehefrau JEDES Hauptdarstellers, also auch von Devon/Billy) tötet die 'Vier Sieben' Hauptdarstellerin (und transformiert natürlich auch Susan/Nikki) mit einem Schraubenziehen durch einen Stich in die Gebärmutter. Zumindest in 'Vier Sieben' ist es die zweite der beiden Leichen, die das Ende des ursprünglichen Films bedeuteten.

Aber es wird noch ein drittes Leben vernichtet: ein ungeborener Junge, ein Junge, der 'die Haustür öffnete und die Welt sah' und dem das Böse folgte. Das war allerdings 'Gestern'. Im Heute und jetzt soll Nikki, soweit Lynchs Intuition, selbst in Schwierigkeiten driften. Sie muss es sogar, denn nur so kann sie das "Geheimnis imitten von Welten in Welten" eingebettet, finden und sowohl der Schraubenzieher-Mörderin, als auch dem Jungen Erlösung bringen und selbst Erlösung erfahren. Im Grunde jagt Nikki aber nur einem Phantom ("im grünen Mantel") nach, nämlich sich selbst, wie man im Laufe des Films erfährt: sie selbst beobachtet sich beim Meeting vor Beginn der Dreharbeiten zu 'On High In Blue Tomorrows'. Diese Jagd nach sich selbst ist als Metapher für die eigene Sünde zu sehen und die Erklärung für die zweite Legende über das Mädchen, das sich auf dem Marktplatz verirrte. Aber das sei nicht der Punkt, sagt die Besucherin/Fee/Hexe: Nicht über den Marktplatz, sondern durch die Gassen hinter dem Marktplatz hätte sie gehen sollen, um zum Palast zu kommen.

Ein Irrgarten ist Lynchs INLAND EMPIRE Welt also, ein Irrgarten, der Nikki in ihr herrschaftliches Anwesen zurückführen wird. Zuvor muss sie jedoch ihren Mission erfüllen, die vergangenheit ungeschehen zu machen. "Doch an diese Dinge werden Sie sich kaum erinnern" sagt die
Besucherin/Fee/Hexe zu Beginn von INLAND EMPIRE - wie wahr, muss Nikki sie doch erst einmal finden. Ein "verfickt brutaler Mord" werde geschehen, sagt sie zu Nikki, aber sie scheine sich ncht errinnern zu könne, ob es heute, morgen oder gestern passieren würde. (Anm: An dieser Stelle ein kleines Kompliment an Mr. Lynch, denn "verfickt brutaler Mord" ist für das, was einst geschah, 100 % zutreffend). Jede Tat habe nun mal ihre Konsequenzen, sagt die unerwartete Besucherin zu Nikki, und dennoch sei da die Magie, die helfen könne. Doch wen stellt Grace Zabriskie, die Fee/Hexe wohl dar? Ohne Zweifel Laura Dern mit ihrem unerwarteten Besuch bei David Lynch, der zum intuitiven Auftrag für IE wurde ... "strange what love does". Nebenbei bemerkt haben Nikki und die Hexe/Fee die gleichen Namen: Grace.

Ach ja, einmal gingen David Lynch dann doch die Ideen aus. Zur Inspiration ging er 2005 zuerst nach Ostdeutschland und besuchte in Brandenburg alte Fabrikhallen und düstere Orte** ... aber nichts geschah. Dann ging er nach Polen zum Filmfestival in Lodz und fand dort, wonach er suchte. Alte Volksweisen, polnische Schauspieler, einen Zirkus. Und die Ideen flossen wieder nur so in Lynchs Kopf hinein. Ein klein wenig Deutschland ist dennoch in INLAND EMPIRE verblieben, als beinahe unbemerkte Hommage an einen großen deutschen-Film. Warum wirken in INLAND EMPIRE sowohl Nasstasia Kinski*** als auch Harry Dean Stanton mit? Die Antwort ist 'Paris, Texas' von Wim Wenders, in dem einst Stanton (als Travis) und Kinski (als Jane) die Hauptrollen spielten.

Nikki/Susan durchlebt in IE jedenfalls ihre innersten Ängste und will dabei knapp drei Stunden lang nur selbst geliebt werden. Doch INLAND EMPIRE, das Innenleben ihres Bewußtseins, spielt ein böses Spiel. Was ist Film, was Film im Film, was das wirkliche Leben. Anders als in 'Mulholland Drive'**** (in dem sich die blonde Hauptdarstellerin umbringt) steht Nikki den Wahnsnn jedoch durch und ist am Ende befreit. Perfektes Konflikttraining via 'learning by doing'.

Als Fakt gesehen ist INLAND EMPIRE dann zwar sehr außergewöhnlich und sehr künstlerisch eigenwillig (und sehr lang), aber eigentlich doch nur ein Märchen, ein Spiel, ein Film aus der Traumfabrik. "Ich wurde hypnotisiert" sagte nicht nur die Schraubenziehermörderin sondern auch mancher IE Besucher. Aber das hatte dem Lynch- Kenner schon die Nadel in der Plattenrille zum Filmanfang verraten: "No Hay Banda“ ... es ist alles nur eine Illusion.

Na dann auf, auf zum fröhlichen Holzscheitesägen, wenn man nicht gerade ein Loch in einen Damenslip zu brennen hat ... da verzeiht man dann auch die 'Dumbland'-Übersetzung von "Sweeet" in das Wort "Zuuucker", eine der wenigen Stellen, an denen es mir eiskalt den Rücken hinunterlief.

P.S.: Nach mehrmaligem Anschauen von IE werden die offenen Frage nicht weniger sondern nur diffizieler: Wer spielte doch gleich den sägenden Mann? Und wer spielt Smithee? Wieso hat der Hasenmann den grünen Mantel des Phantoms an? Weshalb hat die Schwester des Phantoms nur ein Bein? Und vor allem: weshalb kann Buckee den 2KW-Scheinwerfer nicht richtig einrichten?

Die Rätsel gehen immer weiter, denn INLAND EMPIRE ist ein Film, der so sehr über das heute gewohnte Genre Film hinaus geht
(inklusive Gehirnjogging und Konflikttraining), dass er in Jahrzehnten noch als außergewöhnlich gelten wird.


* = gefragt wird Laura Dern hier von ihrer wahren Mutter; ein in
'Wild At Heart' geborener Running Gag, sozusagen das wirkliche Leben zum Film im Film im Film

** = Lynch wollte die 'polnischen Szenen' in Deutschland drehen; geblieben ist nur der Name 'Vier Sieben / Seventy Four', der auch im amerikanischen Original so gesprochen wird und damit einen 'deutschen' Film ergibt.

*** = Bis zur letzen Sekunde des Nachspanns hebt sich Lynch die Mitwirkung der 'Woman in a yellow dress' auf. Da darf sie aber dann an exponierter Stelle neben Laura Dern sitzen.

**** = hier ist wohl auch die einzige Rechtfertigung für die CONCORDE-Filmverleih Dummheit, auf die Rückseite des in den Kinos ausgelegten IE Flyers mit großen Lettern zu schreiben "Die inoffizielle Fortführung von 'Mulholland Drive'"

Tuesday, April 17, 2007

"In Hollywood herrscht die Wut"

[David Lynch im SPIEGEL Interview zu INLAND EMPIRE]

Frage: Mr Lynch, was haben Sie gerade gegessen?

David Lynch: Eine Gemüsesuppe und dann Lachs mit einer großartigen Sauce. Ein sehr leichtes Gericht. Warum fragen Sie?

Frage: Sie gelten inzwischen als großer Esoteriker Hollywoods und meditieren mehrmals täglich. Verlangt diese Lebensweise nicht eine bestimmte Ernährung?

Lynch: Nein. Meditation soll befreiend wirken und darf keine Zwänge ausüben. Man darf alles essen. Ich persönlich allerdings ziehe Speisen vor, die weder meinen Gaumen noch meine Augen beleidigen.

Frage: In Ihrem neuen Film INLAND EMPIRE erzählen Sie von einer Schauspielerin (Laura Dern), die für einen mysteriösen Film besetzt wird, von Osteuropäern, die im Wald hausen, und von Menschen mit Hasenköpfen. Selbst Fans von Ihnen geben zu, dass sie den Film kaum verstehen. Auch wir sind ziemlich ratlos. Können Sie uns helfen?

Lynch: Ich kann Ihr Dilemma nachvollziehen. Die meisten Filme sind ganz einfach zu verstehen. Aber ich erzähle nicht bloß Geschichten, sondern arbeite mit Abstraktionen. Das Kino kann die Zuschauer in eine Welt jenseits des Intellekts entführen, in der sie sich ganz und gar ihren eigenen Intuitionen anvertrauen müssen. Es geht nicht darum, etwas zu verstehen, sondern darum, etwas zu erfahren.

Frage: Was denn? Verwirrung?

Lynch: Verwirrung kann sehr stimulieren! Es gibt viele Zuschauer, die es lieben, sich in einen Film fallen zu lassen. Wenn sie aus dem Kino kommen, wirkt er in ihnen fort, sie versuchen, sich einen Reim auf das zu machen, was sie gerade erlebt haben. Andere sind frustriert, weil sie nichts kapieren, fühlen sich verloren. Aber für die gibt es ja auch andere Filme.

Frage: Das klassische Erzählkino?

Lynch: Genau. Es ist zeitlos, und ich liebe es sehr. Doch ich will seine Formen und Strukturen so weit wie möglich dehnen. Dazu braucht es allerdings immer wieder eine zündende Idee.

Frage: Was war denn die zündende Idee bei INLAND EMPIRE?

Lynch: Die Schauspielerin Laura Dern kam bei mir vorbei und sagte, dass sie in meine Nachbarschaft gezogen sei. Diese Begegnung war ein Schlüsselerlebnis für mich, sofort hatte ich das starke Bedürfnis, mit ihr einen weiteren Film zu drehen. Und als mir Laura erzählte, dass sie aus einer Gegend im Osten von Los Angeles stammte, die Inland Empire genannt wird, war auch der Titel schon gefunden.

Frage: Trägt das als Idee? Der Film wirkt auf uns wie ein wilder Gedankenstrom.

Lynch: Das ist er nicht! Dann wäre er ja willkürlich. Wenn mir eine Szene einfällt, habe ich den Raum, in dem sie spielt, und das Licht, das darin herrscht, genau vor Augen. Doch mit jeder guten Idee kommt leider auch immer eine Menge Müll mit, den muss ich dann wieder aussortieren.

Frage: Aber Sie zeigen den Zuschauern Bilder, die andere Regisseure sofort aussortieren würden. Warum sind manchmal die Gesichter der Schauspieler im Vordergrund unscharf, während die Wände hinter ihnen klar zu erkennen sind?

Lynch: Das war keine Absicht, das lag an der Kamera! Doch als ich diese Bilder sah, bei denen der Zuschauer nicht genau weiß, worauf er sein Augenmerk richten soll, gefielen sie mir.

Frage: Früher fanden Sie mit Filmen wie "Blue Velvet" (1986) oder "Wild at Heart" (1990) und Stars wie Isabella Rossellini oder Nicolas Cage ein Millionenpublikum. INLAND EMPIRE sahen in den USA noch nicht mal 100.000 Zuschauer. Kann Ihnen das Publikum nicht mehr folgen?

Lynch: Je abstrakter ein Film ist, desto weniger Zuschauer findet er, das war schon immer so. Ich glaube aber, die Zuschauer verstehen von INLAND EMPIRE viel mehr, als sie selber ahnen. Und ich bin überzeugt, dass wir gerade in einer Zeit des Umbruchs leben. Mehr und mehr Zuschauer sind die immergleichen Hollywood-Filme leid, und es könnte sein, dass das Arthouse-Kino deshalb größeren Zulauf erhält.

Frage: Ist das nicht reichlich optimistisch? In diesem Jahr schickt sich Hollywood an, wieder Rekorde zu brechen.

Lynch: Vielleicht, aber wir haben heute ein wahrhaft globales Kino. Wir sehen Filme aus Asien oder aus Afrika. Jeder kann heute eine Kamera in die Hand nehmen, einen Film drehen und vertreiben. Hollywood hat nicht mehr die totale Kontrolle.

Frage: Wirklich? Hat Hollywood den Avantgardefilm nicht schon vereinnahmt? Immer mehr Großproduktionen wie "Babel" oder "Syriana" arbeiten mit einer non-linearen Erzählweise.

Lynch: Aber das können Sie doch nicht mit meinen Filmen vergleichen! Da wird doch nur eine lineare Geschichte in veränderter Reihenfolge montiert. Das ist nicht innovativ, sondern bloß eine Mode.

Frage: Wo wird das innovative Kino in Zukunft stattfinden? Im Internet?

Lynch: Gewiss. Da werden wir Künstler mit völlig neuen Ausdrucksformen entdecken.

Frage: Nutzen Sie das Internet selbst als künstlerische Spielwiese? Schon auf Ihrer Homepage zeigen Sie in einer Sitcom Menschen mit Hasenköpfen.

Lynch: Ja, aber ich habe das nicht bewusst erst im Internet ausprobiert und dann später im Film verwandt. Viele meiner Ideen entwickeln ein Eigenleben. So sehe ich INLAND EMPIRE zwar als Pendant zu "Mulholland Drive", aber ich kann Ihnen auch nicht sagen, warum beide Filme von Hollywood handeln. Ich weiß nicht, wie ich auf meine Ideen komme. Vielleicht kommen sie eher auf mich zu.

Frage: Sie haben sich mit einer Kuh mitten in Los Angeles an der Ecke Hollywood Boulevard/La Brea Avenue hingesetzt, um Werbung für INLAND EMPIRE zu machen. Keinen Schimmer, warum?

Lynch: Doch. Ich hatte herausgefunden, dass die Leute Kühe sehr mögen. Die Kuh und ich hatten mehrere Auftritte, einmal mit einem Pianisten, ein anderes Mal mit der Blaskapelle einer Highschool und einigen Cheerleadern. Ich wollte Laura Dern damit zu einer Oscar-Nominierung verhelfen. Hat leider nicht geklappt.

Frage: Sie wirken immer sehr gelassen. Haben Sie eigentlich vor nichts Angst? Vieles in Ihren Filmen, auch in INLAND EMPIRE, rührt an Urängste, vor dem Altern, dem Tod, der Desorientierung ...

Lynch: Es spielt keine Rolle, wovor ich persönlich Angst habe, das sind die ganz normalen Dinge. Wir alle müssen einmal abtreten und dabei den Körper zurücklassen, und damit sind Ängste verbunden. Aber da gibt es eine Stimme, eine Person in uns, mit der wir uns austauschen, und die ist alterslos. Sicher: Es ist seltsam, wie schnell manchmal die Zeit vergeht, aber wenn man sich auf all die Ideen und Dinge, die im Leben zu tun sind, konzentriert, dann fällt es nicht so auf.

Frage: Blinder Aktionismus als Geheimrezept gegen die Angst vor dem Tod?

Lynch: Nein, nein! Es reicht nicht, nur irgend etwas zu tun. Ängste und alle negativen Dinge verschwinden nur, wenn man mit dem großen Feld der puren Glückseligkeit Kontakt aufnimmt, das für jeden Menschen jederzeit erreichbar ist.

Frage: Wie bitte?

Lynch: Ich spreche hier von Transzendenz. Sie wissen, dass wir nur Bruchteile unserer Gehirnkapazität nutzen. Das Ziel meiner Meditationen ist aber, es voll auszunützen.

Frage: Klingt verlockend. Wie geht das?

Lynch: Es ist eine uralte Methode: Das Mantra richtet den Geist nach innen! Und wir tauchen bereitwillig ein, denn es entspricht unserer Natur, nach höherem Glück zu streben. Jede intellektuelle Ebene, die wir durch die Meditation erreichen, birgt mehr Glücksgefühl, also stoßen wir immer weiter vor, transzendieren immer mehr. Das ist eine mentale Technik. Und je weiter wir auf diesem Pfad der Erleuchtung vordringen, desto mehr Kapazitäten setzen wir frei. Wir schöpfen das volle Potential, die ganze Schönheit des menschlichen Wesens aus. Wir werden kreativer, lebendiger, ausgeglichener. Und im Gegenzug verschwindet alles Negative.

Frage: Sie betreiben diese Art der Meditation seit Anfang der siebziger Jahre. Sind Sie bereits erleuchtet?

Lynch: Nein, ich bin überzeugt, dass die Erleuchtung real ist, aber sie ist auch eine sehr große, sehr erhabene Sache. Ich befinde mich auf dem Weg dorthin. Das Schöne ist: Mit jedem Schritt wird es heller, das merke ich jeden Tag.

Frage: Mit Verlaub, in Ihren Filmen ist davon nicht viel zu spüren. Im Gegenteil, dort scheint es immer klaustrophobischer und beklemmender zu werden. Gibt es da einen Zusammenhang?

Lynch: Ich verliebe mich in Geschichten über widerstrebende Emotionen, Konflikte, Horror, das ist ganz normal, weil es menschlich ist. Aber der Filmemacher muss nicht selbst leiden, um Leid zu zeigen. Im Gegenteil: Je weniger ich leide, desto kreativer bin ich und kann genießen, was ich tue. Immer, wenn man sich über etwas ärgert oder wütend ist, kommt der kreative Fluss ins Stocken, weil sich der ganze Geist nur mit den negativen Dingen beschäftigt.

Frage: Davon gibt es im Filmgeschäft bekanntlich eine ganze Menge.

Lynch: Ja! Und es macht so viele Leute in diesem Geschäft krank! Sie arbeiten nicht, sie haben Angst, Sie werden depressiv. In Hollywood herrscht die Wut: Stellen Sie sich vor, jemand piesackt Sie den ganzen Tag: Sie müssen das Budget einhalten, Sie haben nicht das letzte Wort beim Schnitt - alles ist nur noch Druck, Druck Druck!

Frage: Dafür, dass Sie für weniger Angst und mehr Erleuchtung plädieren, geraten Sie jetzt aber ganz schön in Rage ...

Lynch: Ich rege mich doch nicht auf! Ich bin etwas lebhaft, aber ich rege mich nicht auf. Dafür ist das alles doch viel zu schön!


Das Interview führten Lars-Olav Beier und Andreas Borcholte © 2007 SPIEGEL. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die im SPIEGEL wiedergegebene Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.