Monday, April 23, 2007

INLANDTERPRETATION

Viel ist bislang in INLAND EMPIRE hinein interpretiert worden, was ebenso natürlich wie gewollt ist. Hier folgt eine Inlandterpretation, die sich eng an im Film gesprochene Sätze hält.

IE ist in erster Linie ein Frauen-Film, der aus Sicht einer Frau über eine Frau im Schwierigkeiten erzählt. In zweiter Linie geht es um eine Frau in Liebe. In dritter Linie um Untreue, deren Folgen, ihre Vermeidbarkeit und in vierter Linie um eine Seelenrettung, die ohne das komplexe Konstrukt der "Welten innerhalb von Welten" nicht möglich werden würde. IE ist ebenso unzweifelhaft ein Märchenfilm, extremer zwar, als die Legende von Hänsel und Gretel (die sich im Wald verliefen), aber die Parameter sind die gleichen. Eckpunkte bei IE sind die Zeitebenen 'Gestern', 'Heute' und 'Morgen' - Lynch praktiziert über sie fortwährend eine Verschiebung von Raum und Zeit.

Da es in INLAND EMPIRE hauptsächlich um die Figur Laura/Nikki/Susan Blue/Grace/Dern geht, sucht man zuerst nach direkten Verbindungen zwischen
Laura/Nikki/Susan Blue/Grace/Dern ... und findet deren Namenssilbengleichheit. Unzweifelhaft (weil wie ein Schüssel*) ist David Lynchs Erklärung, dass Laura ihn einst besuchte, um ihm vom INLAND EMPIRE und ihrem Mann Ben Harper zu erzählen und wie gut es ihr jetzt dort ginge. Ganz im Gegensatz zu früher, damals, als sich Billy Bob Thornton von ihr getrennt hatte, um mit Angelina Jolie zusammen zu leben (die sich später von diesem trennte um mit Brad Pitt zusammen zu leben), da habe sie, Laura, nur "eine finstere Zukunft" gesehen. Dies war wohl die Geburt von Billy 'Bob' Side und des Films an sich. Man spürt förmlich David Lynchs Ideen fließen, als Laura/Lula ihm aus ihrem Leben erzählte.

Schon bei diesem Gespräch stand, so Lynch, der Titel für das Projekt fest: INLAND EMPIRE. Und schon nach wenigen Sätzen Derns verliebt sich in Lynchs Gedankenwelt Laura/Susan verhängnisvoll in Billy ("Ist es wirklich möglich, die treue Ehefrau zu bleiben, mit dem Wolf vor der Tür?"*). Aber war dies nicht eine der Blaupausen, die das Leben in seinem großen Fundus stets vorrätig hat? Oft kopiert und schon verbraucht? Vielleicht im Drehbuch eines früheren Films namens 'On High In Blue Tomorrows', das den Hauptdarstellern verschreibt, sich ebenso ineinander zu verlieben wie ihre Figuren Susan und Billy, genauso wie das viele Jahre zuvor ebenso in
'Vier Sieben / Siebenundvierzig' ("angeblich ein verfluchter Ort" erzählt Kingsley Stewart) geschah mit den beiden damaligen Hauptdarstellern. Da stoppt Lynch seine Gedankenwelt, weil weitere Verschachtelungen weder notwendig noch weiter logisch handelbar wären. CUT & REVIEW: Piotrek Krol, der eifersüchtige polnische Ehemann der polnischen Hauptdarstellerin in 'Vier Sieben' (es ist der gleiche, welcher heute Nikkis wirklicher Ehemann ist) bemerkt die Affäre, da seine Frau schwanger ist (er selbst kann keine Kinder zeugen) und er tötet den polnischen Hauptdarsteller. Obwohl man diese Tat in IE nicht sieht, ist er die erste der beiden Leichen, die das Ende von 'Vier Sieben' bedeuteten. Dann misshandelt Krol seine Frau und die dadurch fast das ungeborene Kind verliert. Damit aber nicht genug: die eifersüchtige Ehefrau und Witwe des Hauptdarstellers (Lynch transformiert sie im Film zur Ehefrau JEDES Hauptdarstellers, also auch von Devon/Billy) tötet die 'Vier Sieben' Hauptdarstellerin (und transformiert natürlich auch Susan/Nikki) mit einem Schraubenziehen durch einen Stich in die Gebärmutter. Zumindest in 'Vier Sieben' ist es die zweite der beiden Leichen, die das Ende des ursprünglichen Films bedeuteten.

Aber es wird noch ein drittes Leben vernichtet: ein ungeborener Junge, ein Junge, der 'die Haustür öffnete und die Welt sah' und dem das Böse folgte. Das war allerdings 'Gestern'. Im Heute und jetzt soll Nikki, soweit Lynchs Intuition, selbst in Schwierigkeiten driften. Sie muss es sogar, denn nur so kann sie das "Geheimnis imitten von Welten in Welten" eingebettet, finden und sowohl der Schraubenzieher-Mörderin, als auch dem Jungen Erlösung bringen und selbst Erlösung erfahren. Im Grunde jagt Nikki aber nur einem Phantom ("im grünen Mantel") nach, nämlich sich selbst, wie man im Laufe des Films erfährt: sie selbst beobachtet sich beim Meeting vor Beginn der Dreharbeiten zu 'On High In Blue Tomorrows'. Diese Jagd nach sich selbst ist als Metapher für die eigene Sünde zu sehen und die Erklärung für die zweite Legende über das Mädchen, das sich auf dem Marktplatz verirrte. Aber das sei nicht der Punkt, sagt die Besucherin/Fee/Hexe: Nicht über den Marktplatz, sondern durch die Gassen hinter dem Marktplatz hätte sie gehen sollen, um zum Palast zu kommen.

Ein Irrgarten ist Lynchs INLAND EMPIRE Welt also, ein Irrgarten, der Nikki in ihr herrschaftliches Anwesen zurückführen wird. Zuvor muss sie jedoch ihren Mission erfüllen, die vergangenheit ungeschehen zu machen. "Doch an diese Dinge werden Sie sich kaum erinnern" sagt die
Besucherin/Fee/Hexe zu Beginn von INLAND EMPIRE - wie wahr, muss Nikki sie doch erst einmal finden. Ein "verfickt brutaler Mord" werde geschehen, sagt sie zu Nikki, aber sie scheine sich ncht errinnern zu könne, ob es heute, morgen oder gestern passieren würde. (Anm: An dieser Stelle ein kleines Kompliment an Mr. Lynch, denn "verfickt brutaler Mord" ist für das, was einst geschah, 100 % zutreffend). Jede Tat habe nun mal ihre Konsequenzen, sagt die unerwartete Besucherin zu Nikki, und dennoch sei da die Magie, die helfen könne. Doch wen stellt Grace Zabriskie, die Fee/Hexe wohl dar? Ohne Zweifel Laura Dern mit ihrem unerwarteten Besuch bei David Lynch, der zum intuitiven Auftrag für IE wurde ... "strange what love does". Nebenbei bemerkt haben Nikki und die Hexe/Fee die gleichen Namen: Grace.

Ach ja, einmal gingen David Lynch dann doch die Ideen aus. Zur Inspiration ging er 2005 zuerst nach Ostdeutschland und besuchte in Brandenburg alte Fabrikhallen und düstere Orte** ... aber nichts geschah. Dann ging er nach Polen zum Filmfestival in Lodz und fand dort, wonach er suchte. Alte Volksweisen, polnische Schauspieler, einen Zirkus. Und die Ideen flossen wieder nur so in Lynchs Kopf hinein. Ein klein wenig Deutschland ist dennoch in INLAND EMPIRE verblieben, als beinahe unbemerkte Hommage an einen großen deutschen-Film. Warum wirken in INLAND EMPIRE sowohl Nasstasia Kinski*** als auch Harry Dean Stanton mit? Die Antwort ist 'Paris, Texas' von Wim Wenders, in dem einst Stanton (als Travis) und Kinski (als Jane) die Hauptrollen spielten.

Nikki/Susan durchlebt in IE jedenfalls ihre innersten Ängste und will dabei knapp drei Stunden lang nur selbst geliebt werden. Doch INLAND EMPIRE, das Innenleben ihres Bewußtseins, spielt ein böses Spiel. Was ist Film, was Film im Film, was das wirkliche Leben. Anders als in 'Mulholland Drive'**** (in dem sich die blonde Hauptdarstellerin umbringt) steht Nikki den Wahnsnn jedoch durch und ist am Ende befreit. Perfektes Konflikttraining via 'learning by doing'.

Als Fakt gesehen ist INLAND EMPIRE dann zwar sehr außergewöhnlich und sehr künstlerisch eigenwillig (und sehr lang), aber eigentlich doch nur ein Märchen, ein Spiel, ein Film aus der Traumfabrik. "Ich wurde hypnotisiert" sagte nicht nur die Schraubenziehermörderin sondern auch mancher IE Besucher. Aber das hatte dem Lynch- Kenner schon die Nadel in der Plattenrille zum Filmanfang verraten: "No Hay Banda“ ... es ist alles nur eine Illusion.

Na dann auf, auf zum fröhlichen Holzscheitesägen, wenn man nicht gerade ein Loch in einen Damenslip zu brennen hat ... da verzeiht man dann auch die 'Dumbland'-Übersetzung von "Sweeet" in das Wort "Zuuucker", eine der wenigen Stellen, an denen es mir eiskalt den Rücken hinunterlief.

P.S.: Nach mehrmaligem Anschauen von IE werden die offenen Frage nicht weniger sondern nur diffizieler: Wer spielte doch gleich den sägenden Mann? Und wer spielt Smithee? Wieso hat der Hasenmann den grünen Mantel des Phantoms an? Weshalb hat die Schwester des Phantoms nur ein Bein? Und vor allem: weshalb kann Buckee den 2KW-Scheinwerfer nicht richtig einrichten?

Die Rätsel gehen immer weiter, denn INLAND EMPIRE ist ein Film, der so sehr über das heute gewohnte Genre Film hinaus geht
(inklusive Gehirnjogging und Konflikttraining), dass er in Jahrzehnten noch als außergewöhnlich gelten wird.


* = gefragt wird Laura Dern hier von ihrer wahren Mutter; ein in
'Wild At Heart' geborener Running Gag, sozusagen das wirkliche Leben zum Film im Film im Film

** = Lynch wollte die 'polnischen Szenen' in Deutschland drehen; geblieben ist nur der Name 'Vier Sieben / Seventy Four', der auch im amerikanischen Original so gesprochen wird und damit einen 'deutschen' Film ergibt.

*** = Bis zur letzen Sekunde des Nachspanns hebt sich Lynch die Mitwirkung der 'Woman in a yellow dress' auf. Da darf sie aber dann an exponierter Stelle neben Laura Dern sitzen.

**** = hier ist wohl auch die einzige Rechtfertigung für die CONCORDE-Filmverleih Dummheit, auf die Rückseite des in den Kinos ausgelegten IE Flyers mit großen Lettern zu schreiben "Die inoffizielle Fortführung von 'Mulholland Drive'"

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