Monday, May 21, 2007

"Schneewittchen und die sieben Huren" - Teil 2: Wirklichkeit als Phantasma

[Rüdiger Suchsland bei TELEPOLIS über David Lynch und INLAND EMPIRE]

( Fortsetzung )

Lynchs Kino ist ein Pandämonium, ein Versammlungsort böser Geister, und einer von ihnen ist der Regisseur selbst. Er hat ja im Prinzip nie etwas anderes gemacht als hier, er wollte das Kino dekonstruieren, um ihm im gleichen Moment doch seine Liebe zu erklären. Auch der Nekrophile ist ein Liebender und manchmal wird man in INLAND EMPIRE den Eindruck nicht los, dass hier der Regisseur ein gewissermaßen nekrophiles Verhältnis zu seinem Gegenstand hat. Schwarze Romantik, surreale Gothic Tale ist das in jedem Fall - und dies weist auch die Richtung der speziellen, gar nicht wirklich verborgenen Lynchschen Klassizität. Nicht zufällig ist "Vier Sieben", der auf einem polnischen Zigeunermärchen beruhende Film im Film dieser Amerikanischen Nacht ein deutsches Melo, und es bleibt dem Zuschauer überlassen, ob er dahinter eher den Gothic-Noir eines alten Emigranten vermutet, oder einen Ufa-Schinken aus der großen dunklen Zeit. Aber vielleicht lebt diese Leiche mehr, als auch Lynch glaubt. Und nur darum gelingt die Machtentfaltung der Simulation, die Vermischung der Realitätsebenen, die Lynch immer praktiziert. Denn auch er verfällt in jeder Negation des Kinos doch dessen Überwältigungsästhetik.

Lynch verabschiedet das Medium Film. Hat er zumindest selbst gesagt. Der Film sei tot. Aber was meint er damit? Nur das Zelluloid, überhaupt Hollywood oder gar das ganze Kino? Das hat Peter Greenaway, Lynchs Weggenosse in den späten 80ern, als das postmoderne Kino verkündet, als ihm Mitte der 90er nichts mehr einfiel. Deswegen muss es zwar noch nicht falsch sein, aber manchmal steht hinter solchen Behauptungen doch nur die Müdigkeit ihrer Urheber. Sei's drum. Von Lynch wie von Greenaway hat die Filmgeschichte bahnbrechende Werke zu verdanken, und warum sollen ihnen nicht irgendwann die Ideen ausgehen? Zudem straft INLAND EMPIRE die Rede vom Kinotod Lügen und wirkt eher wie eine Ausrede für eine gewisse visuelle Schlamperei, weil Lynch aus Geldmangel seine eigenen Ansprüche hier nicht hundertprozentig einlösen konnte.

Wichtiger als jeder Inhalt sind hier aber Stil und Methode des Films. In seiner Erzählweise und in den schmutzig-grauen, grobkörnigen Bildern liegt INLAND EMPIRE nahe am Experimentalfilm. Stilistisch lässt sich ein Teil des Ergebnisses wohl tatsächlich auch aus der Tatsache erklären, dass hier ein Regisseur zum ersten Mal in seinem Leben mit DV Camera und digitalem Filmmaterial gearbeitet hat, auch die Kamera selbst führte und mit dieser Technik zum Teil einfach nicht zurecht kam. Das Ergebnis sind hässliche, oft grobkörnige oder verwaschene Bilder, denen ein großer Teil des visuellen Zaubers und der bildlichen Traumqualität fehlt, der Lynchs Kino immer essentiell war. Auch die offenbar vorhandene Überfülle des Materials hat Lynch sichtlich nur zum Teil unter Kontrolle bekommen - der Film ist zu lang, ihm fehlen Konzentration und Disziplin. Darauf muss man nach dieser Feststellung dann allerdings auch nicht lange herumreiten. Denn viel interessanter ist die Frage, wo der Film trotz allem geglückt ist.

Mit diesem barockem, ebenso schwerblütigen wie faszinierenden, kathartischen, alptraumhaften Trip ins Innere des Kinos, ins Reich seiner Symbole, seiner Phantasmen und seiner Psychoanalyse, bewegt sich Lynch weg von seinen letzten, eher klassisch erzählten Filmen, zurück zu seinen Anfängen als Experimentalfilmer und zu den frühen 90ern, als er mit "Wild at Heart", der TV-Serie "Twin Peaks" und deren Kinofortsetzung "Fire walk with me" auf den Spuren der Gebrüder Grimm wandelte - ein magisch-komplexer Trip voller Paradoxien, narrativer Ellipsen, moderner Mythologien; ein surreales Endzeitszenario, in dem alles aus den Fugen ist.

Es verwundert, dass es auch nach rund 30 Jahren Lynch-Filmen immer noch Zuschauer gibt, die hier Verständlichkeit im herkömmlichen Sinn einfordern und dieses Kino dafür kritisieren, dass es etwas nicht leistet, was es gar nicht leisten will - als wäre nur eine Form, Filme zu machen, erlaubt. Im Gegensatz zu all jenen Regisseuren, die ihr Kino als Sinnstiftung und Harmonisierungsunternehmen begreifen, die die vielen Betrachtungsweisen der Zuschauer zu einer zu integrieren suchen, will Lynch seit jeher das Gegenteil: Er möchte verunsichern, Sinnangebote in Frage stellen, Dissonanzen und Disharmonien erzeugen, Wahrnehmung multiplizieren, Betrachter verstören. Seine wichtigste Zielgruppe ist seit jeher und auch hier die bürgerliche Mitte der Gesellschaft mit ihrem spezifischen Sicherheitsgefühl und ihren unterdrückten Seiten, mit ihrem offenen Konservatismus und latenten Puritanismen, mit der Doppelmoral, die Gewalt und Sexualität verdrängt.

Einschränkend ist dies aber ein Film, der einen deutlicher als andere Werke von Lynch daran erinnert, dass man, um die Wirklichkeit zu erschüttern, diese erst einmal anerkennen muss. Und genau das lässt Lynch vermissen. Wie andere postmoderne Filmemacher geht er in die eigene, selbstwidersprüchliche Falle: Er will zeigen, dass die Welt nicht so ist, wie sie scheint, dass es "Wirklichkeit" im Grunde nicht gibt, dass sie ein Phantasma ist. Aber er kann das nicht tun, wenn er dem Zuschauer schon vorher deutlich zu verstehen gibt, dass er an Wirklichkeit ja sowieso nicht glaubt. Wenn das Kino von Anfang an Schein ist, kann es mit der Offenbarung, dass sowieso alles Schein ist, keinen Eindruck mehr schinden.


Rüdiger Suchsland © 2007 TELEPOLIS. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die Namensnennung INLAND EMPIRE in INLAND EMPIRE verändert.

"Schneewittchen und die sieben Huren" - Teil 1: Identifikationen einer Frau

[Rüdiger Suchsland bei TELEPOLIS über David Lynch und INLAND EMPIRE]

Ein junges dunkelhaariges Mädchen sitzt in einer alten Hotelsuite am Rand des Doppelbettes und sieht fern. Eine Träne fließt aus ihrem Auge. Im Fernsehen läuft eine merkwürdige Soap mit drei Figuren im Menschenkostüm und Hasenköpfen. Man sieht eine Nadel in einer Schallplattenrille und den Strahl eines Aufnahmescheinwerfers. Eine andere Frau, blond und nicht mehr ganz jung, empfängt in der riesigen Eingangshalle ihres Hauses eine ältere Frau, offenbar ihre neue Nachbarin. Der Butler bringt Kaffee. Bald wendet sich der belanglose, etwas aufdringliche Smalltalk der Alten ins Unangenehme. Offenbar weiß sie viel zu viel über das Leben ihrer Gastgeberin und ungebeten beginnt sie, dieses zu kommentieren, spricht mit ihrem osteuropäischem Akzent bedrohliche Prophezeihungen aus - eine Hexe möglicherweise...
Bilder: Concorde

Mit diesen rätselhaften Szenen, wie sie für David Lynchs Kino so typisch sind, beginnt der Film: Beklemmend und dabei voller Verführungskraft reißen sie den Betrachter unmittelbar hinein in Lynchville, den privaten, einmaligen Kosmos dieses bahnbrechenden Kinokünstlers, der sein Medium beeinflusst hat, wie nur wenige in den letzten zwei Jahrzehnten. Und es beginnt eine mehrfach verschlungene Story, die das Doppelgängermotiv mit dem "Film im Film"-Genre zu einem modernen Märchen verknüpft - so poetisch und so brutal wie die Geschichten der Gebrüder Grimm.

INLAND EMPIRE ist zunächst einmal der Name eines Landstrichs im San Bernardino Valley in Südkalifornien, unweit von Los Angeles. Mit diesem hat David Lynchs neuer Film aber nicht weiter zu tun. Es sind eher innere Landschaften, die der Regisseur auch diesmal kartographiert.

Wie in fast allen seinen Filmen seit "Blue Velvet" steht auch diesmal eine "Woman in Trouble" Frau im Zentrum, eine Frau in Schwierigkeiten. Es ist die Blonde vom Anfang, eine einst erfolgreiche Schauspielerin, die auf ihr Comeback hofft. An der Oberfläche erzählt INLAND EMPIRE die Geschichte der mit einem reichen, gewalttätigen Polen verheirateten Schauspielerin Nikki (Laura Dern), die der Film nun im Folgenden auf ihrer Reise zwischen Alptraum und Idylle, Wunsch und Wahn begleitet: Ein alt gewordenes Schneewittchen, das auf der Flucht vor der bösen Wirklichkeit unter anderem auch bei sieben Huren Trost findet.

In ihrem neuen Projekt mit dem Titel "On High in Blue Tomorrows" spielt Nikki unter einem von Jeremy Irons gespielten Regisseur eine Ehebrecherin, und ihr Göttergatte hat Angst, sie könne auch im echten Leben etwas mit ihrem männlichen Co-Part Devon (Justin Theroux) anfangen. Er bedroht Devon. Zudem sorgt eine mysteriöse Vorgeschichte für zusätzliche Spannung: Der Film ist das Remake eines Scripts dessen frühere Verfilmung durch den Tod der beiden Hauptdarsteller abgebrochen wurde. Und Nikki wird eins mit ihrer Rolle, der fremdgehenden Sue...

Ungefähr hier nun vermischen sich diese verschiedenen Erzählebenen und weitere, fortwährend neu eröffnete, immer mehr. Was Wirklichkeit und was Traum, was Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft ist, wird, wie oft bei Lynch, für den Zuschauer zunehmend ununterscheidbar. Das soll so sein, denn Lynch geht es nicht um Geschichten und Sinngebung im herkömmlichen Verständnis. Lynchs assoziative Methode benutzt die Mittel des Erzählkinos nur noch, um dieses ad absurdum zu führen. Immer wieder führt er dem Betrachter die Illusion als das Wesen der Kunst vor Augen; In einer Doppelbewegung zieht er einen in eine Szene hinein und stößt einen zugleich zurück.

Wie schon in "Mulholland Drive" bildet Hollywood dabei die eigentliche Folie, vor deren Hintergrund man den Film zu verstehen hat. INLAND EMPIRE öffnet sich zu einem Reflexionsraum über das Kino und korrespondiert dabei mit anderen US-Filmen der letzten Monate, mit DePalmas ähnlich unterschätztem "The Black Dahlia" und mit "Hollywoodland". Auch INLAND EMPIRE zeigt das Kino als Gewaltzusammenhang, handelt von der Gewalt, die durch Mythen produziert werden und von den Mythen der Gewalt. Wie sie entfaltet er Hollywood als Hölle, als Schauplatz einer inneren Apokalypse. Das strukturierende inhaltliche Leitmotiv, immer latent mitschwingend, manchmal ganz explizit alles durchdringend, ist die Gewalt gegen Frauen.

Was Laura Dern alias Nikki Grace hier alles zugemutet wird, übersteigt noch das Schicksal von Betty Elms, der jungen Provinzschönheit, die in "Mulholland Drive" ihr Glück in Hollywood versuchte, von Naomi Watts so hinreißend gespielt: Sie verblutet auf dem "Walk of Fame", nachdem ihr ein Schraubenzieher in den Unterleib gestoßen wurde. Ausgerechnet auf dem Marmorstern des frühen Horror-Stars Dorothy Lamour (1914-1996) - "L'amour", was für ein Name! -, die uralt noch 1987 im Horrorfilm "Creepshow 2" ein Mordopfer spielte. Sterbend stolpert sie dann zudem noch über den Marmorstern, der Dorothy Stratten gewidmet ist, jener Darstellerin, die 1981 von ihrem Ehemann ermordet wurde. Beide Filme - und in dieser Hinsicht ist INLAND EMPIRE die direkte Fortsetzung seines Vorgängers - handeln davon, wieviel Blut an Hollywood klebt.

(... to be comtinued ...)


Rüdiger Suchsland © 2007 TELEPOLIS. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die Namensnennung INLAND EMPIRE in INLAND EMPIRE verändert.

"Alice in der Albtraumfabrik"

[Alexandra Stäheli in der NZZ über INLAND EMPIRE]

Hat David Lynch eigentlich jemals etwas anderes gemacht, als Selbst-Epigonentum zu betreiben? Hatte nicht schon «Eraserhead» wie in einer Muschelschale bereits das ganze Lynchsche Universum an Ängsten und Unheimlichem, an Bösem, Jenseitigem, Unbewusstem und Fadenscheinigem enthalten? Und haben dies die Lynchianer jemals anders zu würdigen gewusst als durch okkulte Rezensionspraktiken, mit denen der ganzen Sache unter Berücksichtigung von Psychoanalyse, Numerologie und Möbiusbändern ein transzendenter Sinn extrahiert wurde?

Nun, auch der jüngste, vom Regisseur als «work in progress» bezeichnete Film, INLAND EMPIRE der immerhin eine fast sechsjährige Entstehungszeit hinter sich hat, wartet wieder mit den von Aficionados so heiss verteidigten, von Skeptikern als langatmige Paranoia diagnostizierten Lynch-Ingredienzien auf, als da wären: vom Regisseur für Mystery-Auftritte zurechtmodellierte Darsteller; Zeitschlaufen, erzähllogische Paradoxa und Persönlichkeitsspaltungen; Bildallegorien wie etwa verschachtelte, den Bewohnern entfremdete Häuser, die hauptsächlich aus roten Vorhängen und einem Arsenal an Türen und dunklen Räumen bestehen - sowie ein betörender, banaler Mythos der Schöpfung des Bösen (und des Unbewussten).

Und schon sind wir mitten in der Geschichte der ehemals gefeierten Schauspielerin Nikki Grace (alle Register ziehend: Laura Dern), die mit dem neuen Film des Regisseurs Kingsley Stewart (Jeremy Irons) eine Chance für ein Comeback erhält. Kurz vor dem Beginn der Dreharbeiten erfahren Nikki und Co-Star Devon Berk (Justin Theroux), dass der Film eigentlich ein Remake eines alten deutsch-polnischen Filmprojekts ist, das nicht beendet wurde, weil die beiden Hauptdarsteller bei den Dreharbeiten starben. Und so kommt es denn, wie es in einem Lynch-Mystery- Thriller einfach kommen muss: Kaum stehen Nikki und Devon vor der Kamera, beginnt die zunehmend hypnotisiert wirkende Schauspielerin, sich nicht nur ihrer Rollenfigur Susan Blue, sondern scheinbar auch der früheren Darstellerin und deren Rolle anzuverwandeln - um fortan wie Alice auf einem Horrortrip im Wunderland ihrer eigenen Seele durch ein schier unentrinnbares Labyrinth aus Film und Realität, Traum, Vorherbestimmung und Vergangenheit zu stürzen.

Wie auch schon in «Lost Highway» und «Mulholland Drive» wird uns dabei Hollywood mit einer guten Portion Häme als Albtraumfabrik vorgeführt, die an der Vermischung der Realitätsebenen - an der Macht der Simulation, wie der Philosoph Jean Baudrillard gesagt hätte - kräftig mitwirkt. So ist es natürlich auch kein Zufall, dass eine der vielen Nikkis letztlich auf dem Walk of Fame niedergestochen wird, und zwar ausgerechnet auf dem Stern des Stars Dorothy Lamour, die hochbetagt im Horrorfilm «Creepshow 2» noch eine Hausfrau spielte, die umgebracht wird . . .

Und so müsste man denn den Oscar angesichts von Lynchs Werk zuallererst an die Figur der Selbstähnlichkeit vergeben, die in INLAND EMPIRE zuweilen für amüsant-skurrile Momente sorgt (wie etwa die bissige Verballhornung amerikanischer TV-Realität in Form einer Hasen- Soap), in dem 180-minütigen Schauerepos zuweilen aber auch für zähe und etwas billige Verdunkelungseffekte herhalten muss. Und überhaupt: Warum eigentlich spricht das Unbewusste nun plötzlich polnisch? Lynch sagt dazu nur: 47.


Alexandra Stäheli © 2007 NEUE ZÜRICHER ZEITUNG. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.

Tuesday, May 15, 2007

"Konflikttraining"

[Originalveröffentlichung von rainerWsauer unter dem Titel "DL50T: 12/Konflikttraining (Vol. 2) " am Freitag, den 08. September 2006 bei heimatkunde.blogspot.com]


Jetzt möchte ich mich auch wieder einmal persönlich melden. Übrigens: Der Mensch auf meinem Foto ist Regisseur David Lynch und ich habe sein INLAND EMPIRE gesehen, vorgestern bei der Weltpremiere in Venedig. Kostenpunkt für das Ganze: rund 400 Euro inkl. Flug, Übernachtung und Frühstück im 'Holiday Inn Venice-Marghera' sowie die Kinokarte*. Nun bin ich wieder im Inland zurück und muss sagen, es hat sich gelohnt: der Film ist pures Konflikttraining. Jawohl, davon verstehe ich auch ein klein wenig - schließlich habe ich 2003 Frau Krauses** Internetauftritt Leben eingehaucht und außerdem gibt es ja meine eigene Internetdomain www.konflikttraining.org, die belegt, dass man mit Worten und Zuhören manches Gute bewirken kann.

Die Handlung des Films erzählt eine Geschichte über Dreharbeiten zu einem großen Kinofilm. Hauptfigur Nikki (gespielt von Laura Dern) bekommt die Chance auf ein Film-Comeback. Sie soll die Hauptrolle in einem Liebesdrama spielen: es geht um eine verhängnisvolle Affäre. Nikki ahnt, dass sie all das schon einmal erlebt hat. Zeit und Raum verschieben sich, sie trifft auf Sue (ihr früheres Ich), die Realität verschwimmt.

Permanent tauchen drei Hasen-Menschen auf und geben allerlei rätselhafte Äußerungen von sich, wobei Nikki manchmal gar nicht weiß, ob sie ihre Affäre nur spielt, träumt oder wirklich erlebt/erlebt hat. Sie bezeichnet das Eindringen in die fremde Ehe als 'mindfuck' (was bedeuten soll, dass ihr Gehirn ihr Streiche spielt). Sie glaubt zudem nicht daran, dass die Sache wirklich gut für sie ausgehen wird, denn Nikki ist einerseits eifersüchtig bezüglich ihres Geliebten, weil junge Mädchen ihn anhimmeln, und hat zugleich Angst vor den Prophezeiungen einer bösartigen Nachbarin und ihrem eifersüchtigen Ehemann. Mit fortschreitender Dauer des Films INLAND EMPIRE spürt Nikki, dass die 'San Bernardino Riverside Area' in der sie wohnt (auch 'Inland Empire' -kleingeschrieben- genannt) und in der der Film 'On High In Blue Tomorrows' gedreht wird, nur vordergründig ein Landstrich, eine Wüste ist; hintergründig ist es ein Ort zur Suche nach Identität.

Weshalb hat der Mensch Angst und wovor? Das ist das Hauptthema, um welches sich im Film alles dreht. Lynchs Fazit: Falsche Hoffnungen oder Entwicklungen, die einem Menschen ständig neue Probleme verursachen, sind keine Erleichterung für die Psyche des eigenen Körpers (Lynchs -groß geschriebenes- INLAND EMPIRE). Panik und Angst sind permanent präsent und lassen sich nur dadurch überwinden, dass man mit sich selbst ins Reine kommt. - David Lynch hat sich persönlich übrigens der transzendalen Meditation verschrieben.

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* = Dank nochmal an meinen alten Kumpel Claudio Belle von 'Radio Cento Fiori', der mir die Karte ergattert hat.
**=www.konflikttraining-jena.de

Monday, May 14, 2007

"Eine absolute Freiheit des Denkens"

[Rüdiger Sturm im Interview mit David Lynch bei WELT ONLINE]

Mister Lynch, in Ihrem neuen Film spielt wie in „Blue Velvet“ und „Wild at Heart“ Laura Dern mit. Für die Oscar-Nominierung reichte es nur wieder nicht.

Der Film lief in den USA unter dem Radar. Er wurde nur in einem Kino in Los Angeles und einem in New York gezeigt. Aber ich bin überzeugt, in zwei Jahren werden die Leute zurückschauen und sagen: „Meine Güte, Laura Dern war unglaublich großartig.“

Bedauern Sie es, dass INLAND EMPIRE keine Beachtung findet?

Meine Filme bestehen aus Ideen, in die ich mich verliebt habe und deshalb realisieren wollte. Natürlich wäre es schön, wenn die ganze Welt ähnlich empfinden würde, aber das passiert leider nie. Es liegt außer meiner Kontrolle. Jemand wie Spielberg ist da viel glücklicher dran. Wie ich verliebt er sich in Ideen, aber die werden eben von Millionen gemocht. Für mich ist finanzieller Erfolg letztlich nur der Zuckerguss auf der Torte. Wenn ich ihn nicht bekomme, dann habe ich immer noch das gemacht, woran ich glaube. Ich halte meinen Kopf hoch und gehe weiter.

Vielleicht folgen Ihnen mehr Leute auf diesem Pfad, wenn Sie ihnen ein paar Interpretationshilfen geben.

Das wäre der falsche Ansatz. Ich weiß, was INLAND EMPIRE für mich bedeutet. Aber das verrate ich nicht, ich möchte doch den Zuschauern nicht die Erfahrung verderben. Wenn ich mir einen Film ansehe, will ich meine eigenen Erfahrungen sammeln und zu meinen eigenen Schlüssen kommen. Da stört es doch, wenn wir wissen, was der Regisseur denkt. Die Zuschauer müssten stärker ihrer Intuition vertrauen. Denn im Grunde wissen sie viel mehr, als sie glauben, aber sie gestehen es sich nicht ein. Dabei ist es doch die große Freude des Menschseins, Sachen für sich selbst herauszufinden.

Bei „Mulholland Drive“ waren Sie mit Hinweisen aber nicht so sparsam.

Ich gab den Franzosen ein paar Tipps, weil sie den Film noch mal ins Kino bringen wollten. Erst war ich total dagegen, aber dann wurde ich auf ihre Fragen neugierig. Allerdings wurde das Ganze dann im Internet veröffentlicht. Das soll auf jeden Fall eine Ausnahme bleiben.

Gibt es keine Leitthemen, die Ihre Filme verbinden?

Nein. Nach „Blue Velvet“ glaubten die Leute, ich würde immer nur von dunklen Geheimnissen erzählen, die sich hinter einer unschuldigen Oberfläche verbergen. Das ist Bullshit. In diesem einen Fall traf das zwar zu, sonst ist keiner meiner Filme wie der andere. Natürlich ist jede Geschichte eine Entdeckungsreise, auf der du Dinge erfährst, die du vorher nicht kanntest. Das gilt auch für INLAND EMPIRE. Das ist ungefähr so, als würdest du in einem Boot einen Kanal hinunterfahren. Dann stoppst du an einem Pier und betrittst ein Gebäude. Darin beginnst du alle möglichen Räume zu erkunden.

Diese Räume stecken allerdings voll extremer Fantasien.

Ich bewerte meine Vorstellungen nicht. Ich bekomme einfach Ideen, ich erkunde sie und dann übersetze ich sie in ein anderes Medium, so dass andere Menschen die gleichen Gefühle und Empfindungen haben können. Und natürlich brauche ich Kontraste aus Positivem und Negativem, denn sonst ist eine Geschichte nicht interessant.

Sie praktizieren bekanntermaßen Transzendentale Meditation. Bringt die Sie auf neue Gedanken?

Transzendentale Meditation erweitert dein Bewusstsein. Und wenn du ein tieferes Bewusstsein erlangt hast, dann kannst du Ideen auf einem subtileren Niveau erwischen. Das ist wie beim Angeln. Du kommst an die Fische heran, die unten in der Tiefe schwimmen.

Oder Sie können es auch mit einem Kartenspiel vergleichen: Sie erhalten immer mehr Karten, mit denen Sie etwas anfangen können. Und das Ziel ist es, eines Tages den vollen Stapel in der Hand zu halten. Wie viele Karten haben Sie?

40. Nein, das ist nur ein Scherz. Ich weiß nicht, wie viele ich habe. Ich bin glücklich, aber trotzdem möchte ich den ganzen Stapel.

Das bedeutet eigentlich, dass Ihre Filme im Lauf der Zeit immer subtiler geworden sein müssten.

Das vermag ich nicht zu beurteilen. Ich kann nur sagen, dass ich im Lauf der Jahre immer mehr Spaß an meiner Arbeit bekommen habe. Ich spürte weniger Stress und Ängste - alles, was meine Kreativität lähmte, nahm ab. Ich kam mit den Leuten besser zurecht, weil ich viel mehr Mitleid und Verständnis für sie spürte. Und auf diese Weise musste ich weniger Schlachten schlagen, und ich erhielt immer häufiger grünes Licht für meine Projekte.

Angeblich lernt man durch diese Technik auch Fliegen. Können Sie das auch?

Hier geht es um eine fortgeschrittene Stufe, die ich nicht beherrsche. Wer sie kann, der wird von einem euphorischen Glücksgefühl überwältigt. Aber dabei geht es nicht um Fliegen im strengen Sinne. Die Menschen dieser Stufe senden ein Gefühl des Friedens aus, das dazu beiträgt, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Egal, ob das andere Leute für Unfug halten oder nicht. Aber das ist momentan sehr wichtig, denn die Erde steckt momentan in großen Schwierigkeiten.

Wie verträgt sich diese friedliebende Haltung mit Ihren Sympathien für die Republikaner?

Ich habe keine Sympathien für die Republikaner. Ich mochte nur Ronald Reagan - und das auch nur, weil ich das Bild schön fand, wie er in seiner Freizeit Büsche und Unterholz zurechtschnitt. Ich interessiere mich nicht für Politik - das Ganze ist mir zu fremd. Aber ich bin natürlich gegen jede Art von Aggression und Krieg. Meditation bietet eine viel, viel bessere Lösung.

Aber die allein scheint Ihnen nicht zum Glück zu reichen. Sie haben auch Rituale, auf die Sie nicht verzichten können.

Das kann man nicht miteinander vergleichen. Ich habe einfach einen strukturierten Tagesablauf. Ich esse meistens zu einer bestimmten Zeit und eine bestimmte Sache, bis ich dieses Gericht nicht mehr sehen kann und etwas Neues für mich entdecke. Außerdem mag ich minimalistisches Design.

Woher kommt dieses Bedürfnis nach Struktur?

Es ist kein tiefes Bedürfnis. Aber wenn du zuviel Chaos in deinem Alltag hast, kannst du nicht so gut denken. Das ist das Gleiche wie bei einem unaufgeräumten Zimmer. Hängst du darin ein Bild auf, verliert es an Wirkung. Aber sobald du Ordnung schaffst, knallt es richtig auf dich rein.

Sie leben seit Jahrzehnten in Los Angeles. Ist das auch für Ihr Befinden wichtig?

Sehr. Ich liebe das Licht dieser Stadt, und ich spüre in ihrer Luft ungezählte Möglichkeiten, eine absolute Freiheit des Denkens. Und wenn ich abends den Duft der Bäume rieche, dann weckt das Assoziationen an das alte Hollywood. In dieser Brise scheint das Goldene Zeitalter noch zu leben.

Aber in Ihrem Schaffen kehren Sie dieser Hochglanz-Ära den Rücken. Die Bilder von INLAND EMPIRE sind mit einer billigen DV-Kamera gedreht.

Aber die Flexibilität, die einem digitale Kameras beim Dreh erlauben, ist durch nichts zu übertreffen. Ich werde nie mehr zum Zelluloid zurückkehren. Film als Medium ist ein Dinosaurier, der im Teerloch versinkt. Es ist schwer, langsam. Die Kopien haben unterschiedliche Qualität, sie verschmutzen, sie reißen. Natürlich ist der Look wunderschön, aber ihn zu erreichen, ist der reine Kopfschmerz. Abgesehen davon kann ich die Bildqualität von digitalen Aufnahmen optimieren. Da gibt es unzählige Manipulationsmethoden.

Glauben Sie denn wenigstens noch an das Kino? Oder sollen wir Ihre Filme lieber künftig am Computer oder auf unserem Handy anschaut?

Ich habe auch schon gehört, dass so etwas möglich sein soll. Wer einen Film in Briefmarkengröße sieht, sieht ihn im Endeffekt gar nicht. Als Regisseur arbeitest du so hart daran, damit alle Elemente vom Ton bis zum Bild das richtige Gefühl vermitteln. Schon die falsche Lautstärke kann den Effekt zerstören. Deshalb hoffe ich, dass es nach wie vor die große Leinwand des Kinos gehen wird. Die Vorstellung, dass jemand meine Filme auf einem Computerbildschirm oder seinem Telefon sieht, bricht mir das Herz. Aber andererseits muss ich mich daran gewöhnen, denn diese Entwicklung ist unausweichlich. Und solange ich meine Ideen umsetzen kann, bin ich glücklich.


Rüdiger Sturm © 2007 WELT ONLINE. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.

Tuesday, May 08, 2007

"Popanz und Programm"

[Marius Meller im TAGESSPIEGEL über INLAND EMPIRE]

Ein fahles Interieur, eine US-amerikanische Kleinbürgerwohnung. Ehemann und Ehefrau haben Hasenköpfe. Sie tun nichts Besonderes. Ein Hase steht auf, geht zur Tür, lässt einen dritten Hasen herein – und schon hat man eine Geschichte. Nein, weniger eine Geschichte, (denn sie könnte auf tausend Arten weitergehen), eher eine Allegorie. Aber bevor man womöglich auf die Idee kommt, dass hier das amerikanische Menschenbild auf den Punkt gebracht wird (obenrum ein frommes Wesen, untenrum Sex und Gewalt), tönen die Lacher-Konserven von Band, wie in US-Sitcoms üblich. Also gefriert dem Zuschauer das eigene Lachen in der Kehle.

Was passiert noch in den 172 Minuten von INLAND EMPIRE, die einem wie eine halbe Ewigkeit vorkommen? Das Übliche aus dem Lynch-Kosmos: Personen, die sich ineinander verwandeln, polnische Huren, die dem Bösen begegnen, ein Film im Film mit einer großartigen Sterbeszene, der Satan als Popanz und so weiter und so weiter. Die Hasenszene: ein typischer LynchTrick, den er sich bei Autoren wie Kafka abgeschaut hat. Lynch liest Kafka, sagt er, wenn er sich „amüsieren“ will. Ein Zyniker? Jeder Künstler hat das Recht, Rätsel zu produzieren, für deren Lösung er nicht zuständig ist. Was nicht heißt, dass das Rätsel nicht lösbar wäre. Die Interpretation ist Sache des Zuschauers, seine Chance zur Erkenntnis – das gehört zum Spiel, bei Kafka wie bei seinem späten filmischen Nachkömmling David Lynch. Der sagte in einem Interview: „Tote Autoren kann man ja auch nicht nach dem Sinn ihrer Kunstwerke fragen.“

David Lynch gibt sich überhaupt bedeckt, wenn Fragen konkret werden - oder privat. Jeder im Filmbusiness kennt die Anekdote, warum Isabella Rossellini ihn verlassen hat: wegen einer toten Maus im Familienkühlschrank, die er für eine Installation brauchte. Eigentlich auch eine typische Lynch-Story; nur wird sie von Frau Rossellini erzählt. Für die in der Tat geniale Schauspielerin Laura Dern, die schon in Lynch-Klassikern wie „Wild at Heart“ und „ Blue Velvet“ an der Seite von Rossellini brillierte, hat sich der Filmemacher mit einer echten Filmkuh und einem großen Plakat an eine Kreuzung in Los Angeles gestellt. So wollte er auf ihre einzigartige Leistung in INLAND EMPIRE hinweisen, weil ihm der Aufwand für die Oscar-Einreichung zu kostspielig schien. Eine nette Geste. Leider – und das hätte wohl auch die Academy nicht anders gesehen – wird auch eine brillante Einzelleistung von einem nicht gelungenen Film bisweilen überdeckt. Und der neue Lynch ist nicht gelungen, auch wenn dies dem überzeugten Lynch-Fan nicht leicht über die Lippen kommt.

In Lynch-Filmen gibt es meistens eine Leitmetapher. In „Lost Highway“ (1997) war das der US-amerikanische Highway selber – er stellte eine Allegorie für die Inbesitznahme und „Zivilisierung“ des Kontinents dar. Diesem Highway kann man folgen – oder ihn verlieren, so wie mitunter die Protagonisten des Films. Ebenso fungierte der „Mulholland Drive“ im gleichnamigen Film von 2001 als Leitmetapher. Er ist die schönste Aussichtsstraße in Hollywood und eine teure Wohngegend. Aber er erinnert auch an den Ingenieur William Mulholland (1855–1935), der durch sein Bewässerungssystem Los Angeles erst urbar machte. „Mulholland Drive“ versuchte, das magische Zentrum von Amerikas Traumfabrik zu dekonstruieren – der Film wies diskret, im Gewand eines Pseudo-Horrorfilms, auf das in der US-Kultur Verdrängte hin.

In INLAND EMPIRE nun untersucht Lynch die Wechselwirkung von altem Europa und neuem Amerika. Und verlegte deshalb einen Teil der Handlung, die mit Doppelgängermotiven und Identitätstausch arbeitet, nach Polen. Doch in diesem Film franst seine Bildsprache seltsam aus. Der Regisseur fungiert über weite Strecken selbst als Kameramann mit einer (veralteten) Digital-Handkamera. So faszinieren zwar einige Einstellungen ästhetisch – aber über der Aufkündigung der bewährten Arbeitsteilung zwischen Kamera und Regisseur geraten Form und Rhythmus aus den Fugen.

Zudem wirken die Kunstgriffe, die Lynch erfunden oder weiterentwickelt hat (subfrequenter Soundtrack, Weißblenden, Spiele mit dem Fokus), wie bloße Selbstzitate. „Lost Highway“, „A Straight Story“ (1999) und „Mulholland Drive“ waren kristallklare Montagen, rationale Kalküle, die aufregend irrational sind. INLAND EMPIRE aber wirkt wie die Wiederverwendung von weggelassenen und notdürftig zusammengefügten Filmschnipseln.

Laura Dern agiert in einer – in traditioneller Filmtechnik aufgenommenen – Schlüsselszene tatsächlich oscarreif. Aber oft wirkt sie inszenatorisch alleingelassen. Jeremy Irons als fiktiver Filmregisseur und Justin Theroux als fiktiver Hauptdarsteller jenes Films, der im Film namens INLAND EMPIRE gedreht werden soll, spielen gut, aber sie alle hängen irgendwie in der Luft.

Müssen wir uns Sorgen um den Lynch’schen Kreativitätsfluss machen? Nein. Schon mit „A Straight Story“ hat Lynch gezeigt, dass er seine Filmsprache auch wechseln kann, wenngleich es auch dort typische Lynch-Szenen gab. Und schließlich hat er einmal „Dune – Der Wüstenplanet“ (1984) mit David Bowie gedreht, der ebenso Experiment wie totaler Reinfall war. „INLAND EMPIRE“ wirkt, als wolle hier einer ein Kapitel abschließen. Hoffentlich brütet Lynch längst wieder etwas aus, was uns verzaubern wird – wie seine stärksten, seine unsterblichen Filme.

Marius Meller © 2007 TAGESSPIEGEL. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.

"Das Böse war geboren"

[Fritz Göttler in SÜDDEUTSCHE ZEITUNG über INLAND EMPIRE]

Hier kommt das Allerletzte aus Hollywood, Kalifornien, "where stars make dreams and dreams make stars" - so verheißt es, großspurig und völlig unglaubwürdig, William H. Macy, in einer Kurzeinlage als Werbesprecher einer abgehalfterten Talkshow. David Lynchs neuer Film räumt auf mit den letzten Resten des amerikanischen Kinotraums. Am Ende wird Blut gespuckt auf die Sterne am Hollywood Boulevard, wo nun die Nutten und die Obdachlosen herumlungern.

INLAND EMPIRE, erklärt Lynch, das ist das Gebiet östlich vor Los Angeles, das San Bernardino Valley, Pomona. Er liebt das verschachtelte L.A. von heute. Seine Empfehlung: "Man hat verschiedene Welten an einem Ort. Das ist großartig. Man muss nur den Bus nehmen und wechselt von einer Welt in die andere."

Man zögert erst mal, jemanden in diesen Film zu schicken. Er ist monströs, pathetisch, überladen, komisch, brutal. Er kennt kein Mitleid mit den Zuschauern, kein Entgegenkommen. Aber wenn man mal die Momente der Verwirrung, der Verstörung, der Verzweiflung hinter sich hat, möchte man von seinen fast 180 Minuten auf keine einzige verzichten.

Der Anfang ist, nach einer furiosen Ouvertüre, recht ordentlich, eine kleine nachmittägliche Märchenstunde. Eine neue Nachbarin macht bei der Hollywoodschauspielerin Nikki Grace (Laura Dern) ihren Antrittsbesuch, bewundert das Haus, erzählt eine kleine Geschichte: Ein Junge ging hinaus, um zu spielen. Als er durch die Türe trat, verursachte er eine Spiegelung. Das Böse war geboren und folgte dem Jungen durch die Welt.

Lynch liebt die Reflexionen, die Doppelungen, die Doppelgänger - all die Mechanismen, wie die Welt sich gespiegelt sieht auf der Leinwand. Er ist durchaus geprägt vom klassischen Hollywood, seinen großen Filmen, aber wie er diese persönlich verarbeitet, sind sie kaum mehr kenntlich. Das ist meine "Philadelphia Story", hat er von seinem Erstling "Eraserhead" gesagt - halt ohne Jimmy Stewart. "Sunset Boulevard" ist einer der wichtigsten Filme für ihn - was man wissen sollte für "INLAND EMPIRE".

Die Märchentante ist eine richtige Hexe, Grace Zabriskie spielt sie, die Laura Palmers Mutter war in "Twin Peaks" und nun der Figur von Laura Dern, Nikki Grace, in einem Akt von Verschwesterung den Namen leiht. Ihr Blick ist stechend, messerscharf ihr osteuropäischer Akzent, mit dem sie harmlose Floskeln gefährlich klingen lässt. Sie habe gehört, Nikki habe eine neue Filmrolle, eine Ehegeschichte, die endet in brutal fucking murder. Jeremy Irons spielt ihren Regisseur, sein prätentiöses Gehabe lässt den Titel ganz selbstverständlich erscheinen: "On High in Blue Tomorrows". Ein Anfang scheint womöglich im polnischen Lodz lokalisierbar, bei einem mysteriösen Macker und Manipulator, der als Phantom bezeichnet wird, der Frauen aushält und dunkle Geschäfte macht. Es hat wohl einen Film vor dem Film gegeben, in Polen, "47" ist der Titel, aber ein Fluch liegt über ihm, die beiden Hauptdarsteller wurden ermordet.

Die Kamera kann nicht von Laura Dern lassen, aber irgendwie verwandelt sie sich unter Lynchs und unseren Blicken, aus Nikki wird Susan, die Frau, die sie spielt, sie beginnt eine Affäre und gerät in merkwürdigen Somnambulismus, und plötzlich steht sie sich selbst gegenüber, in und jenseits ihrer Rolle. In diesem Moment ist schon klar, dass die Kategorien Innen und Außen nicht mehr existieren, und die Gesetze des Erzählens und der Dramaturgie, die sie begründen. Lynch ist versessen drauf, Ängste direkt auf die Leinwand zu bringen, und die primäre Angst vor allem - was mag, beim Gang durch schlecht beleuchtete endlose Gänge hinter der nächsten Biegung lauern.

Bei jedem Schnitt muss man gewärtig sein, in einer anderen Welt, einer anderen Zeit sich wiederzufinden. Man kennt das sonst aus europäischen Filmen, von Dreyers "Vampyr" oder Resnais’ "Marienbad". In einem der schaurig-schönen Sechzigerjahre-Interieurs tanzen Girls fröhlich Locomotion, ein anderes wird von Hasen bewohnt, die sich die Zeit mit Bügeln und Konversation vertreiben - sie entstammen einer Serie auf Lynchs Website. Um Reklame zu machen für Laura Superstar, zog Lynch mit einer Kuh durch die USA - er sorgt dort selbst für den Verleih des Films.

Auch die Kamera hat er selbst geführt, eine alte digitale PD 150. Sie sorgt für die schwindelerregenden Unschärfen, wie man sie aus den Filmen der dreißiger Jahre kennt, sie nimmt den Bildern die Konturen, verstärkt die Materialität. Kurz nach ihrer Erfindung wurde die Fotografie immer auch im festen Glauben erprobt, man könne mit den neuen Apparaten das Unsichtbare direkt sichtbar machen - die Phantome, die Luftspiegelungen, die Vergangenheit, die Toten. So sieht das auch Lynch, weshalb er sich auch nie als Erzähler versteht, sondern als Sammler, als Dokumentarist.

Nikkis Leben bringt Grace Zabriskie auf den Punkt, durch eine weitere Geschichte, die vom Mädchen, das hinausging um zu spielen. Es ging nicht "durch den Marktplatz" - sondern "durch die Allee hinter dem Marktplatz" ... Ein Geraune hat sich im Internet um den Film entwickelt, seit seiner Präsentation im Wettbewerb in Venedig, ein Rattenschwanz von Deutungen und Lesarten, die am Sinn der Blogger-Gemeinden zweifeln lassen. Sie rauben dem Film seine Unschuld. Jede neue Variante stellt die vorherigen auf den Kopf. Der Geschwätzigkeit des Exegese-Betriebs setzt der Film das Rauschen der Bilder entgegen. Eine ruhige Selbstreflexion. Es geht um Prostitution, um den Verkauf von Bildern und Images. Das Ende ist tröstlich. Wenn wir erst mal unsere Todesszene durchgezogen haben, könnte es doch sein, dass die Kamera zurücksetzt, die Techniker und Akteure applaudieren. Die Nummer ist im Kasten.

Fritz Göttler © 2007 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.

"So geht es einem in Lynch-Land"

[Birte Lüdeking bei www.MOVIEMAZE.de über INLAND EMPIRE]

Es ist wieder Zeit, Sinn und Verstand auf Eis zu legen und dem Gefühl und Unterbewusstsein den Vortritt zu lassen. Denn David Lynch meldet sich zurück, und sein Höllentrip in die parallelen Persönlichkeiten einer Schauspielerin scheint noch weniger zugänglich und begreifbar zu sein, als es 'Mulholland Drive' war. Ist es Unlogik? Ist es (Alp-)Traumlogik? Es ist Lynch-Logik.

Man mag von David Lynchs Filmen halten, was man will, aber eines muss man dem Mann lassen. Er hat ein Gespür für ausdrucksstarke Titel, die sofort Assoziationen auslösen und im Gedächtnis hängen bleiben. 'Eraserhead', 'Wild at Heart', 'Lost Highway' und nun also INLAND EMPIRE - einerseits eine Gegend bei Los Angeles, andererseits natürlich das innere Königreich. Und vor allem: "I liked the sound of the word inland and I liked the sound of the word empire", erklärt der Regisseur seine Wahl. So einfach ist das also.

Vielleicht ist sein neuestes Werk, trotz einer mal wieder verwirrenden, nichtstringenten Handlung, im Kern auch so simpel und klar, wenn man nicht allzu sehr darüber nachgrübelt und stattdessen einfach Klänge und Bilder auf sich wirken lässt. Ohne es in eine Schublade packen zu wollen und zu erwarten, dass man von seinem Macher an die Hand genommen und von A nach B geführt wird, wie es bei Filmen mit einer konventionellen Erzählstruktur der Fall ist. Aber möglicherweise ist es auch im Inneren genauso, wie es äußerlich erscheint: chaotisch, enervierend und verunsichernd und dabei im besten Sinne anspringend, eindringlich und schwer wieder abzustreifen.

Es beginnt mit einem gewaltigen Dröhnen, das einem direkt unter die Haut fährt und endet unter anderem mit dem Satz, der Programm ist: "How weird". Dazwischen bekannte Gesichter aus vergangenen Lynch-Trips wie Laura Dern ('Blue Velvet', 'Wild at Heart') oder Justin Theroux ('Mullholland Drive'). Dann die oft praktizierten, lediglich neu gewürfelten Spiele mit unterschiedlichsten Fiktions- und Realitätsebenen, von denen viele ins Nichts zu führen scheinen, andere von Anfang an nur Finten waren. Und die bewusste Weigerung des Regisseurs, einzuordnen oder zu erklären.

Was reden die nicht untertitelten Polen? Wieso singen die Prostituierten "The Loco-Motion"? Obwohl er es eigentlich besser wissen müsste, versucht der Verstand noch lange nach dem Abspann, die vielen Fragen zu beantworten, die in den Raum gestellt werden und dort zurückbleiben. Und das Puzzle einigermaßen passend und übersichtlich zusammenzusetzen, das Lynch erstmals mittels Digitalkamera wild auf die Leinwand wirft. Der Look ist schmutzig und schwummerig, weit entfernt von den scharfen, satten Cinemascope-Bildern seiner früheren Werke. Der Ton ist beunruhigend, manchmal beängstigend.

"I can't tell if it's yesterday or tomorrow and it's a real mindfuck", sagt die von Laura Dern verkörperte Schauspielerin, die nicht mehr weiß, wo sie ist und wer sie ist. So geht es einem in Lynch-Land auch als Zuschauer. Aber das ist ja gerade das Reizvolle, wenn man sich darauf einlässt, die Kontrolle für eine Weile an den Nagel zu hängen, sein Hirn ordentlich durcheinander wirbeln zu lassen und anschließend versucht, es wieder in die gewohnten Bahnen zu lenken. Die Stimmungen und Gefühle, die INLAND EMPIRE freisetzt, sind mit gängiger Logik nicht zu fassen, sie können nur empfunden werden.

Die eigene Realität kommt einem nach diesem Sinnesrausch sehr öde vor. Vorausgesetzt, man befindet sich in der Wirklichkeit und nicht in einem Traum oder fiktiven Paralleluniversum, in dem man gefangen ist, ohne es zu wissen. Vielleicht sprechen alle polnisch in der Realität, in der man eigentlich Zuhause ist. Und was bedeuten überhaupt die Menschen in Hasenkostümen? Egal. In diesem Film fühlen sie sich richtig an.

Birte Lüdeking © 2007 www.MOVIEMAZE.de. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.

Monday, May 07, 2007

"Wer bin ich? Wo bin ich? Und wann?"

[Sascha Keilholz bei www.CRITIC.de über INLAND EMPIRE]

Am Ende läuft Nina Simones „Sinnerman“. Wenn man Regisseur David Lynch glauben darf, ist es das endgültige Ende seiner Kinokarriere. Dies verwundert nicht, scheint er die gegenwärtige Kinematographie doch an eine Grenze getrieben zu haben, die zu überschreiten kaum noch möglich scheint. Mit 'Blue Velvet' (1986) hat er einen der Filme der achtziger Jahre geschaffen, mit 'Twin Peaks' (1990-91) die ultimative Fernsehserie kreiert. 'Lost Highway' (1997) ist einer der radikalsten Filme überhaupt, 'The Straight Story' (1999), als komplementäres Gegenstück, ebenso. 'Mulholland Drive' (2001) ist die formvollendete Schönheit des Alptraums. Und nun INLAND EMPIRE.

Für gewöhnlich ist das Kino ein Ort, der uns Sicherheit schenkt. Da gibt es Theorien, die davon ausgehen, dass die Personen auf der Leinwand sozusagen Ersatzhandlungen ausführen, zu denen uns Mut oder Talent fehlt. Oder dass sie gar unsere ungelebten Träume einlösen. Bei David Lynch, und das ist nichts Neues, handelt es sich eher um die Alpträume. Stanley Cavell spricht von einer mechanischen Abwesenheit des Zuschauers dem Schauspiel, dem Geschehen auf der Leinwand gegenüber, die seine Hilflosigkeit absichert. Dabei geht es weniger um die räumliche Distanz zwischen Leinwand und Zuschauer, sondern um die zeitliche zwischen dem Erleben des Zuschauers und dem gezeigten Geschehen. Und dennoch scheint es bei Lynch schwierig von Abwesenheit oder Abgesichertheit des Zuschauers zu sprechen. Womöglich gerade deshalb, weil seine Filme gegebene Zeitkontinuitäten und Kinogesetzmäßigkeiten ignorieren.

„Sinnerman“, das ist das Zeichen zum Entspannen, es ist das Finale und vergleichbar mit dem Moment des Aufwachens. Noch ziehen sich die letzten Szenarien des wirren Traums durch die Gedanken, doch man fühlt schon das sichere Kopfkissen und in wenigen Augenblicken hat man sich in der Sicherheit der Realität verankert. Doch was liegt hinter einem – und welche Bedeutung schreibt man ihm zu? Seit Freud sind wir alle unsere eigenen Hobbypsychoanalytiker und deuten von den nächtlichen Eingebungen schon mal den Tagesverlauf oder greifen besorgt zum Telefon, wenn einem geliebten Menschen im Traum etwas zugestoßen ist. Im Kino der letzten Jahre wird dieser Parallelwelt, einer Matrix, eine auffällige Bedeutung zugeschrieben.

Scheinbar trägt diese bestimmte Form des Kinos über sein eskapistisches Angebot noch einem Wunsch nach Parallelwelten Rechnung. Dabei werden die verschiedenen Existenzmöglichkeiten oft gegeneinander abgewogen. Bei INLAND EMPIRE ist das Verhältnis nicht so leicht zu bestimmen. Nicht eine Parallelwelt entspricht einem Horrorszenario – das Gesamtkonstrukt entpuppt sich als solches. Insofern bietet Lynch weder Eskapismus, noch eine Parallelwelt, die als Abenteuer, als spielerische Alternative erscheint. Es gibt nur das in sich gespaltene und doch verwobene, nach eigenen Regeln funktionierende Gesamtuniversum – und wer würde ernsthaft darin leben wollen?

Bei Lynch geht es vornehmlich um das Gegenteil von Sicherheit. INLAND EMPIRE ist durchdrungen von einer Unsicherheit, die Bilder und Figuren prägt. Wenn sich Zeit- und Raumkoordinaten lösen, ja wenn Identitäten nicht mehr klar unterscheidbar sind, was bleibt dann? Lynchs Projekt, so könnte man meinen, besteht darin, die Strukturen der Verunsicherung auf die Strukturen des Kinos zu übertragen. Das klassische Hollywoodkino liebt den Establishing Shot, um dem Publikum Räumlichkeit zu vermitteln, Gewissheit zu schenken: hier befinden wir uns. Bei Lynch ist nicht nur unklar, wo man sich befindet, wir wissen noch nicht einmal, wer sich gerade an diesem Ort befindet, den wir nicht zuordnen können – weder einer Topographie, noch einer Zeit.

Alles beginnt so harmlos, mit dem Topos der wachsenden Ununterscheidbarkeit zwischen Schauspieler und Rolle. Wären da nicht vorher schon diese Menschen in Hasenkostümen gewesen. Nikki Grace (Laura Dern) ist gleichsam Frau eines mächtigen und reichen Mannes, scheinbar Typ östlicher Oligarch, und zumindest in der Vergangenheit erfolgreiche Schauspielerin. Der neue Dreh bringt sie mit dem Frauenhelden Devon Berk (Justin Theroux) zusammen. Natürlich sollten beide auf der Hut vor dem Ehemann sein. Und dem Fluch, der schon auf der Erstverfilmung dieses Remakes lag.

So weit, so gut. Aber was, wenn die Kulissen des Drehorts zum Labyrinth werden, in dem man sich selbst begegnet? Was, wenn man urplötzlich in Zeitschleifen lebt? Dann lebt man in einer alptraumhaften Parallelwelt und das Kino hat sich in einen Ort der Unsicherheit verwandelt, der an Urängste rührt.

Nina Simone ist eine der beliebtesten Interpretinnen, wenn es um die Auswahl von Filmmusik geht. Emanuele Crianese setzt in 'The Golden Door' (Nuovomondo, 2006) gleich die beiden populärsten Stücke „Feelin Good“ und eben „Sinnerman“, auch dort am Ende des Films, ein. Überhaupt nehmen Simones Songs in den Filmen häufig prominente Stellen ein: John Malkovich nutzte ihren weniger bekannten Titel „Who knows where the time goes“ in seinem Regiedebüt 'Der Obrist und die Tänzerin' ('The Dancer Upstairs', 2002) für eine der eindrucksvollsten Schlusssequenzen der vergangenen Jahre. Was auch daran liegt, dass der Song innerdiegetisch genutzt und mit einer eindrucksvollen Tanzsequenz verknüpft ist. Ähnlich ging Michael Mann in 'Miami Vice' (2006) vor: „Sinnerman“ ertönte dort in der fulminanten Eingangssequenz als Teil des Clubklangteppichs. Wie bei Malkovich und Mann bietet nun auch Lynch ein audiovisuelles Highlight - wobei im Gegensatz zu den beiden Vorgängern die Musikquelle in diesem Fall natürlich nicht bestimmbar ist. Insgesamt sind sich die letzten Werke von Lynch und Mann näher, als man vielleicht spontan denken sollte - beide sprengen auf ihre sehr unterschiedlichen Weisen Erzählkonventionen und treiben die aktuellen Ausdrucksformen des Kinos voran.

Wer in diesem Jahr über Kino sprechen möchte, der wird an INLAND EMPIRE nicht vorbeikommen.

Sascha Keilholz © 2007 www.CRITIC.de. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.

Friday, May 04, 2007

"Das Unbewusste spricht polnisch"

[Boris Groys bei www.SCHNITT.de über INLAND EMIRE]

Der neue Film von David Lynch, INLAND EMPIRE, ist sicherlich ein Meisterwerk - eine Enzyklopädie aller Verfahren des modernen Films, die ohne jeden Zweifel einen herausragenden Platz in den Film Studies einnehmen wird. Es ist diese formale Seite, die vor allem auffällt. Ansonsten scheint der Film auf den ersten Blick eher dunkel, rätselhaft zu sein. Dieser Eindruck aber täuscht. INLAND EMPIRE macht vielmehr vieles deutlich, das in früheren Werken von Lynch ungesagt geblieben ist.

Alle Filme von David Lynch handeln von Menschen im Zustand der Gefährdung durch das Andere, Inhumane – von außen, aber vor allem von innen. Da kämpfen die Kräfte der Gnade gegen die Kräfte des Bösen, wobei der Mensch zum Teil als Spielball, zum Teil als Verkörperung dieser Kräfte auftritt. Dabei glaubt Lynch offensichtlich nicht an die Möglichkeit einer Versöhnung und einer finalen- Harmonie.

Lynch dreht zwar unterschiedliche Filme, aber er wiederholt immer den gleichen Konflikt. Die Zeit in Lynchs Filmen ist zirkulär. Man dreht sich im Kreise - im Kreise der Leidenschaften, der Gefährdungen, der Chancen, man kehrt zu Grundfiguren, zu Grundsituationen immer wieder zurück. Hier handelt es sich um die ewige Wiederkehr des Gleichen. Es ist in erster Linie dieses Insistente und Repetitive, das Lynchs Werk auszeichnet. Die bösen Geister sind immer da - sie lassen sich weder beschwichtigen noch definitiv besiegen. Diese Geister bilden vielmehr ein INLAND EMPIRE in der Psyche eines jeden Menschen - ein Empire, dessen Souverän der Mensch werden will und muß, aber nicht kann. Nun: Woher kommen aber all die bösen Geister? Da sie durch keine Psychoanalyse vertrieben werden können, müssen sie einen trans-individuellen, genuin fremden Ursprung haben. Man hat nämlich das Gefühl, daß die Figuren in Lynchs Filmen zwar in der amerikanischen Wirklichkeit situiert, aber zugleich "auch nicht ganz dabei" sind. Sie sind vielmehr "haunted", besessen von Geistern, die nicht individuelle, sondern, wenn man so will, welthistorische Geister sein müssen. Jetzt ist aber das Rätsel der früheren Filme von Lynch endlich gelöst: Böse Geister kommen aus Polen und, generell, aus Osteuropa. Osteuropa ist das geopolitische Unheimliche schlechthin – und bildet das kollektive Unbewußte des zivilisierten Westens. Das Unbewußte spricht Polnisch.

So etwas konnte man auch früher vermuten. Obwohl die meisten Helden der Lynch-Filme brave Amerikaner sind, sind die Kräfte, von denen sie besessen sind, offensichtlich eines anderen, außer-amerikanischen Ursprungs, denn sie folgen einer nicht-amerikanischen Logik – der Logik des Totalitarismus, der unkontrollierbaren Gewalt, des blinden Schicksals. Die geopolitische Verortung dieser Logik wird besonders deutlich, wenn man die Fotos anschaut, die Lynch in der letzten Zeit in Polen gemacht hat. Obwohl es augenscheinlich Bilder von gewöhnlichen Industrieanlagen sind, wird der Betrachter – auch aufgrund der Inschriften in deutscher Sprache, die auf diesen Fotos immer wieder zu finden sind, und wegen einer gewissen Atmosphäre, die sie subtil durchzieht – in erster Linie an Auschwitz erinnert, aber auch an die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, an die untergegangene deutsche Welt im Osten. In diesem Zusammenhang scheint mir ein Fotobild von New York besonders interessant zu sein, das Lynch aufgenommen hat und das die Stadt hinter einem Gitterzaun zeigt, der wie ein KZ-Gitter anmutet. Das Gefühl der historischen Gefährdung wird auch anhand einer Zeichnung Lynchs deutlich, die ein typisches amerikanisches Haus darstellt, das in Grau eingetaucht ist und von Flugzeugen, Raketen, fliegenden Untertassen und sonstigen unidentifizierten Flugobjekten umkreist und offensichtlich bedroht wird.

Die Grenze zwischen Bewußtsein und Unbewußtem koinzidiert bei Lynch mit der Grenze des Kalten Krieges zwischen Westen und Osten, wobei zwischen verschiedenen Arten des östlichen Totalitarismus nicht klar unterschieden wird. Die menschliche Psyche ist demgemäß tief gespalten zwischen West und Ost, sie befindet sich im ewigen Kalten Krieg mit sich selbst. Als Westler kann man nicht ruhig leben und schlafen, weil die eigenen Träume mit osteuropäischem Akzent sprechen und osteuropäisch depressiv, desolat aussehen. Man kann das äußere Imperium aber nicht effektiv genug regieren, wenn man das innere Imperium der Träume nicht unter die Kontrolle seiner wachen Subjektivität bringen kann. Die Heldin von INLAND EMPIRE löst die Aufgabe auf die traditionell amerikanische Weise: Sie erschießt ihr polnisches Unbewußtes. Eine gute Lösung. Im heutigen post-kommunistischen Osteuropa ist sie durchaus praktikabel. Die Frage bleibt nur, ob sie in anderen, außereuropäischen Regionen, z.B. im Irak, genauso gut funktioniert.

Boris Groys © 2007 www.SCHNITT.de. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.

"Die Hasen sind nicht, was sie scheinen"

[Daniel Bickermann bei www.SCHNITT.de über INLAND EMIRE]

Am Anfang steht die schwarze Leinwand: Now it's dark. Dann flammt ein Scheinwerfer auf, ein Moment wie aus dem Schöpfungsmythos. Nur wird in diesem Film nicht von der Dunkelheit, sondern vom Licht die Bedrohung ausgehen; vom Licht, das bleiche Gesichter strahlen läßt, das durch offene Türen fällt, aus denen Fremde treten und durch die man das Böse in die Welt hinaustragen kann. In jeder der folgenden 172 Minuten regnen unzählige solcher Motive und Assoziationen auf den Zuschauer nieder, manchmal ziehen sie vorbei und kehren später wieder, winken kurz, müde, verschwinden dann endgültig im Nebel des Mysteriums. David Lynch verabschiedet sich von der Narration und driftet in den Symbolismus der Marke Matthew Barney ab, sein neuer Film ist ein Überforderer, ein Erschöpfer, der satte drei Stunden lang am Zuschauer nagt und schleift und rüttelt, und wenn Roger Willemsen recht hat mit seiner These, daß Kunst immer bedeutet: Überforderung des Publikums, dann ist das hier ganz große Kunst. Das Geheimnis von David Lynch ist seine Fähigkeit, das zutiefst unfilmische Prinzip der Homonymie auf der Leinwand umzusetzen: daß ein Ding nämlich viele Dinge sein kann, parallel und paradox, daß man aus demselben Fenster ebenso einen hellen Hof sehen kann wie ein dunkles Filmset; daß ein simpler Gegenstand, ein Schraubenzieher, ein Telefon, eine Tür (oder auch: eine Kamera, ein Scheinwerfer) zugleich ein anderer sein kann, nicht nur metaphorisch, ganz haptisch. Folgerichtig weitergedacht landet man bei einem Zitat von Heiner Müller, demzufolge ein Mensch immer viele Menschen ist, und so steht im Zentrum dieser halluzinatorischen Raumzeitverzerrung namens INLAND EMPIRE auch gleich mehrmals Laura Dern, als schmierige Straßenhure, als glamouröser Filmstar, als schüchterne Südstaatenschönheit, als schizophrene Version einer Frau im Traum im Film im Traum einer anderen schizophrenen Frau. Laura Dern, wie sie sich durch den Film weint, flüstert, schreit und stirnrunzelt, ohne ein einziges Mal die so essentielle Körperspannung aufzugeben, das ist nichts weniger als sensationell.

Alle in diesem Film vorbeiziehenden Welten sind natürlich gespickt mit den üblichen Lynch-Schauspielern in den üblichen Lynch-Rollen: Grace Zabriskie schlafwandelt als Zwerg-Alien mit rollenden Augen und ebensolchem Akzent durch die Szenerie; Harry Dean Stanton schnorrt sich als verwirrt-sympathischer Kauz über ein Filmset; Diane Ladd grinst sich als haßgeifernde Hexe durch ihre eigene Talkshow. Dazu Cameos von Freunden, die in den fünf Jahren improvisierter Drehzeit gerade Zeit und Lust hatten, kurz vorbeizuschauen: William H. Macy, Nastassja Kinski oder Mary Steenburgen laufen mal kurz durchs Bild, verbreiten düstere Vorahnung und gehen dann wieder. Durch seine streckenweise krakelige digitale Handkamera ist der Film weniger Stream of Consciousness, mehr Zettelkasten, Skizzenblock. Dazu passend findet in "Inland Empire" auch die berüchtigte Kurzfilmreihe Rabbits ein neues Zuhause, wenn auch keinen nachvollziehbaren Anschluß. Aber wie sollte man auch eine Handvoll Szenen mit humanoiden Hasen, die zu unpassend eingespielten Lachern und Applaus bügeln und fernsehen, schlüssig in ein narratives Konzept integrieren? Im Gedächtnis bleiben nach diesem Feuerwerk der Verwirrungen und Messalliancen vor allem die narrativen Sprünge: durch polnische Nebenhandlungen, durch Meta-Realitäten und Traumbilder, durch Identitäts- und Maskenwechsel, durch verschiedene Kamerastile und Filmmaterialien, zu denen Badalamentis Soundtrack gewohnt irrwitzig und pompös den Jazz zu Grabe trägt.

Die zahlreichen Risse führen zwangsläufig zu einem Point Break beim Zuschauer: Wenn die imaginären Freundinnen der Hauptfigur im Formationstanz zur "Locomotion" abrocken, stirbt die letzte Hoffnung auf narrative Kohärenz. Aber wenn jede Tür in eine andere Welt und einen anderen Zustand führt, lernt man irgendwann auch, loszulassen, sich treiben zu lassen. In einem Interview beschreibt Lynch seine Erfahrungen mit der transzendentalen Meditation als Spaziergang "zum Ufer der Relativität. Und dann gleitet man hinein. Man transzendiert ins Absolute." Wer nach anderthalb Stunden "Inland Empire" dieses Gefühl nicht nachvollziehen kann, wird wohl frustriert den Saal verlassen. Alle anderen sind erleuchtet.

Daniel Bickermann © 2007 www.SCHNITT.de. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die Namensnennung "Inland Empire" in INLAND EMPIRE verändert.