Monday, May 21, 2007

"Schneewittchen und die sieben Huren" - Teil 1: Identifikationen einer Frau

[Rüdiger Suchsland bei TELEPOLIS über David Lynch und INLAND EMPIRE]

Ein junges dunkelhaariges Mädchen sitzt in einer alten Hotelsuite am Rand des Doppelbettes und sieht fern. Eine Träne fließt aus ihrem Auge. Im Fernsehen läuft eine merkwürdige Soap mit drei Figuren im Menschenkostüm und Hasenköpfen. Man sieht eine Nadel in einer Schallplattenrille und den Strahl eines Aufnahmescheinwerfers. Eine andere Frau, blond und nicht mehr ganz jung, empfängt in der riesigen Eingangshalle ihres Hauses eine ältere Frau, offenbar ihre neue Nachbarin. Der Butler bringt Kaffee. Bald wendet sich der belanglose, etwas aufdringliche Smalltalk der Alten ins Unangenehme. Offenbar weiß sie viel zu viel über das Leben ihrer Gastgeberin und ungebeten beginnt sie, dieses zu kommentieren, spricht mit ihrem osteuropäischem Akzent bedrohliche Prophezeihungen aus - eine Hexe möglicherweise...
Bilder: Concorde

Mit diesen rätselhaften Szenen, wie sie für David Lynchs Kino so typisch sind, beginnt der Film: Beklemmend und dabei voller Verführungskraft reißen sie den Betrachter unmittelbar hinein in Lynchville, den privaten, einmaligen Kosmos dieses bahnbrechenden Kinokünstlers, der sein Medium beeinflusst hat, wie nur wenige in den letzten zwei Jahrzehnten. Und es beginnt eine mehrfach verschlungene Story, die das Doppelgängermotiv mit dem "Film im Film"-Genre zu einem modernen Märchen verknüpft - so poetisch und so brutal wie die Geschichten der Gebrüder Grimm.

INLAND EMPIRE ist zunächst einmal der Name eines Landstrichs im San Bernardino Valley in Südkalifornien, unweit von Los Angeles. Mit diesem hat David Lynchs neuer Film aber nicht weiter zu tun. Es sind eher innere Landschaften, die der Regisseur auch diesmal kartographiert.

Wie in fast allen seinen Filmen seit "Blue Velvet" steht auch diesmal eine "Woman in Trouble" Frau im Zentrum, eine Frau in Schwierigkeiten. Es ist die Blonde vom Anfang, eine einst erfolgreiche Schauspielerin, die auf ihr Comeback hofft. An der Oberfläche erzählt INLAND EMPIRE die Geschichte der mit einem reichen, gewalttätigen Polen verheirateten Schauspielerin Nikki (Laura Dern), die der Film nun im Folgenden auf ihrer Reise zwischen Alptraum und Idylle, Wunsch und Wahn begleitet: Ein alt gewordenes Schneewittchen, das auf der Flucht vor der bösen Wirklichkeit unter anderem auch bei sieben Huren Trost findet.

In ihrem neuen Projekt mit dem Titel "On High in Blue Tomorrows" spielt Nikki unter einem von Jeremy Irons gespielten Regisseur eine Ehebrecherin, und ihr Göttergatte hat Angst, sie könne auch im echten Leben etwas mit ihrem männlichen Co-Part Devon (Justin Theroux) anfangen. Er bedroht Devon. Zudem sorgt eine mysteriöse Vorgeschichte für zusätzliche Spannung: Der Film ist das Remake eines Scripts dessen frühere Verfilmung durch den Tod der beiden Hauptdarsteller abgebrochen wurde. Und Nikki wird eins mit ihrer Rolle, der fremdgehenden Sue...

Ungefähr hier nun vermischen sich diese verschiedenen Erzählebenen und weitere, fortwährend neu eröffnete, immer mehr. Was Wirklichkeit und was Traum, was Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft ist, wird, wie oft bei Lynch, für den Zuschauer zunehmend ununterscheidbar. Das soll so sein, denn Lynch geht es nicht um Geschichten und Sinngebung im herkömmlichen Verständnis. Lynchs assoziative Methode benutzt die Mittel des Erzählkinos nur noch, um dieses ad absurdum zu führen. Immer wieder führt er dem Betrachter die Illusion als das Wesen der Kunst vor Augen; In einer Doppelbewegung zieht er einen in eine Szene hinein und stößt einen zugleich zurück.

Wie schon in "Mulholland Drive" bildet Hollywood dabei die eigentliche Folie, vor deren Hintergrund man den Film zu verstehen hat. INLAND EMPIRE öffnet sich zu einem Reflexionsraum über das Kino und korrespondiert dabei mit anderen US-Filmen der letzten Monate, mit DePalmas ähnlich unterschätztem "The Black Dahlia" und mit "Hollywoodland". Auch INLAND EMPIRE zeigt das Kino als Gewaltzusammenhang, handelt von der Gewalt, die durch Mythen produziert werden und von den Mythen der Gewalt. Wie sie entfaltet er Hollywood als Hölle, als Schauplatz einer inneren Apokalypse. Das strukturierende inhaltliche Leitmotiv, immer latent mitschwingend, manchmal ganz explizit alles durchdringend, ist die Gewalt gegen Frauen.

Was Laura Dern alias Nikki Grace hier alles zugemutet wird, übersteigt noch das Schicksal von Betty Elms, der jungen Provinzschönheit, die in "Mulholland Drive" ihr Glück in Hollywood versuchte, von Naomi Watts so hinreißend gespielt: Sie verblutet auf dem "Walk of Fame", nachdem ihr ein Schraubenzieher in den Unterleib gestoßen wurde. Ausgerechnet auf dem Marmorstern des frühen Horror-Stars Dorothy Lamour (1914-1996) - "L'amour", was für ein Name! -, die uralt noch 1987 im Horrorfilm "Creepshow 2" ein Mordopfer spielte. Sterbend stolpert sie dann zudem noch über den Marmorstern, der Dorothy Stratten gewidmet ist, jener Darstellerin, die 1981 von ihrem Ehemann ermordet wurde. Beide Filme - und in dieser Hinsicht ist INLAND EMPIRE die direkte Fortsetzung seines Vorgängers - handeln davon, wieviel Blut an Hollywood klebt.

(... to be comtinued ...)


Rüdiger Suchsland © 2007 TELEPOLIS. Auf Wunsch von Mr. Lynch wurde die Namensnennung INLAND EMPIRE in INLAND EMPIRE verändert.

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